US-System im Niedergang
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Von wegen Demokratie: Die Krise der Supermacht kommentieren Medien aus Lateinamerika völlig anders als der BRD-Mainstream
Von Volker Hermsdorf
Nach der Attacke auf das Kapitol in Washington, versuchen deutsche Medien und Politiker das Ansehen des desolaten politischen Systems der USA aufzupolieren. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte Außenminister Heiko Maas (SPD) mit dem entlarvenden Satz: »Ohne die Demokratie in den USA keine Demokratie in Europa.« Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der Anhängern Donald Trumps einen Angriff auf das »Herz der Demokratie« vorwarf, schaffte es damit in die Schlagzeilen. Und die Taz schrieb am Dienstag zu der von den Democrats geplanten Amtsenthebung des bis 20. Januar amtierenden Präsidenten: »Die Abgeordneten müssen handeln, denn neben der Demokratie ist die innere und äußere Sicherheit in Gefahr.« Im Stil eines Satiremagazins gab das von Wikipedia noch immer als »systemkritisch« bezeichnete Blatt US-Politikern den offenbar ernstgemeinten Rat: »Die Abgeordneten und Senatoren können die Verteidigung der Demokratie nicht allein den Konzernen in Silicon Valley überlassen, die Twitter, Facebook und Instagram für Trump gesperrt haben.«
Während hiesige Medien sich im Framing ergehen und den Hauptwiderspruch des US-Systems ausblenden, kommentieren Journalisten in Lateinamerika und den USA die Vorgänge aus einer Sicht auf die Realitäten ihres Kontinents. Die Demokratie in den USA sei nicht erst durch Trumps Mob bedroht worden, sondern von Anbeginn an ein illusionäres Fehlkonstrukt, meint etwa die US-Soziologin Malka Older. »Dieselben undemokratischen Bedingungen, die die Wahl eines Lügners erst ermöglichten, die Unterdrückung von Wählerstimmen oder das Wahlmännergremium, sind nach wie vor etabliert, und stehen für den nächsten skrupellosen Reichen bereit«, schrieb Older in dem konservativen Magazin Foreign Policy.
Für die mexikanische Tageszeitung La Jornada ist das Wahlsystem der USA »ein oligarchisches Überbleibsel« aus der Zeit, »als die Sklaverei in diesem Land noch legal war, und das ausdrücklich dazu bestimmt ist, den Volkswillen zu unterdrücken, wenn er sich den Machthabern widersetzt«. Die Folge »ist eine beispiellose Vereinnahmung der Hebel der etablierten Macht durch eine Handvoll Großkapitalisten. Die Ankunft und das Ende des Immobilienmagnaten im Weißen Haus sind nur ein Symptom dieser Misere aber auch Beweis des Verfalls der untergehenden Supermacht«, kommentierte die Zeitung.
Der chilenische Autor Ariel Dorfman ergänzte: »Dies ist ein Amerika, in dem neun Richter des Obersten Gerichtshofs – gewählt von einem nicht repräsentativen Senat – die Rechte rückgängig machen können, die in jahrzehntelangem Kampf von Arbeitern, Frauen, Minderheiten und Gewerkschaftern erkämpft wurden. Dieselben Richter haben zugelassen, dass die Umwelt zum Nutzen der Konzerne verwüstet wird und dass Konzerne mit kolossalen Geldströmen Wahlen und Gesetzgebung beeinflussen. Es ist ein Amerika, in dem eine unanständige Anhäufung von Reichtum durch eine kleine Gruppe von Geschäftsleuten und Finanziers abartige Ungleichheiten hervorgebracht hat, die in weiten Teilen der Bevölkerung Verzweiflung säen und zahllose Männer und Frauen dazu bringen, nach einem populistischen Retter zu schreien, der sie erlösen soll«, schrieb Dorfman in der argentinischen Tageszeitung Página 12. Einmal mit Hilfe des US-Wahlsystems an die Macht gelangt, konnten »das Verfassungssystem und die Gesetze nicht verhindern, dass ein wahnhafter Demagoge seine Macht missbrauchte, sich und seine Familie illegal bereicherte, von Gerichten verurteilte Mörder, Kriegsverbrecher und Meineidige begnadigte und despotische Maßnahmen durchführte«.
Schärfer noch formuliert es die kolumbianische Journalistin Cecilia Zamudio. Der »ganze Zirkus«, kritisierte sie im Onlineportal Resumen Latinoamericano die Berichterstattung über Trumps Abgang, »zielt darauf ab, die Menschen an eine angebliche demokratische Abwechslung glauben zu lassen, die es im Kapitalismus nicht gibt, da immer die gleichen Wirtschaftsmächte regieren, unabhängig vom Namen des amtierenden Präsidenten. Aber sie werden Ströme von Tinte ausschütten und Sendungen mit dem Thema der gefährdeten, aber wiederhergestellten Demokratie füllen, um die diskreditierten Mechanismen eines verrotteten Systems zu stützen«. Der kubanische Journalist Arthur González pflichtete ihr in seinem Blog El Heraldo Cubano bei. »Was am 6. Januar 2021 im Kapitol geschah, ist ein Zeichen dafür, wie der US-Imperialismus seinem Sturz näherkommt. Die Wirtschaftskrise, die durch das schlechte Management der Covid-19-Pandemie noch verstärkt wurde, offenbarte vielen US-Amerikanern, dass sie unter der Bereicherung einiger weniger leiden, die auf Kosten einer wachsenden Verarmung der Mehrheit der Bevölkerung leben.« Zur Frage, ob Joseph Biden den Niedergang aufhalten kann, schrieb der venezolanische Soziologe Ociel Ali López in einem Beitrag für Russia Today: »Wenn der Angriff auf die Zwillingstürme eine starke nationale Einheit hervorbrachte, offenbarte der Angriff auf das Kapitol eine tiefe soziale Spaltung. Das ist das Szenario, dem sich der neue Präsident gegenübersieht. Biden wird ein großes Ereignis brauchen, um die Trump-Basis zu zwingen, ihn als Führer der Nation anzuerkennen. Ein Ereignis, das die Bürger wieder so zusammenbringt, wie sie es beim Einsturz der Zwillingstürme waren«, so der Professor aus Caracas. »Ein Krieg? Das ist eine Möglichkeit – und etwas, womit sein Kabinett Erfahrung hat«, schreibt López.