Lippenbekenntnisse eines Korrupten
https://www.jungewelt.de/artikel/393771.obdachlosigkeit-lippenbekenntnisse-eines-korrupten.html
Brasilien: Rios neuer Bürgermeister kündigt Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit an
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
In den Straßen der brasilianischen Küstenmetropole Rio de Janeiro sind sie nicht zu übersehen. Tausende Obdachlose liegen unter den Markisen geschlossener Banken, Bürogebäude oder Geschäfte. Was schon lange trauriger Bestandteil des Straßenbildes in Rio war, ist in der Coronapandemie noch einmal dramatischer geworden.
Seit Monaten beklagen lokale bürgerliche Medien den Zustand der Stadt am Zuckerhut. »Obdachlose verwandeln die Copacabana in eine offene Latrine«, titelte beispielsweise die Tageszeitung Diário do Rio bereits im vergangenen Mai. Die Probleme mit Obdachlosen und Drogenabhängigen im Stadtteil Copacabana hätten sich seit dem Antritt des evangelikalen Bürgermeisters Marcelo Crivella noch verschärft. »In der Avenida Nossa Senhora de Copacabana campen ganze Familien auf alten Matratzen und verrichten ihre Notdurft neben den Hauseingängen«, so das Blatt weiter. Gleichzeitig stehen Tausende Wohnungen, Häuser und ganze Büro- und Wohnblocks leer. Die durch die Fußballweltmeisterschaft der Männer 2014 und der Sommerolympiade 2016 angeheizte Immobilienspekulation, die die Immobilienpreise explodieren ließ, bedeutet vor allem Leerstand.
Vom 26. bis 29. Oktober des vergangenen Jahres hatte Rio de Janeiros mittlerweile abgewählte Stadtregierung unter Crivella die Zählung der auf der Straße Lebenden veranlasst. Zum Jahres- und Regierungswechsel wurde der Zensus nun veröffentlicht. Demnach zählte das Sekretariat für Sozialhilfe und Menschenrechte 7.272 Obdachlose, 56 Prozent mehr als bei der letzten Erhebung im Jahr 2018. Damals wurden »nur« 4.628 Menschen ohne Dach über dem Kopf auf Rios Straßen registriert. Rund zehn Prozent der Befragten gaben an, die Pandemie habe zu Arbeitsplatz- und/oder Wohnraumverlust geführt, was schließlich in der Obdachlosigkeit endete.
Experten halten die Zahlen des Zensus jedoch für mindestens fragwürdig. So schätzte die »Defensoria Pública do Estado Rio de Janeiro« die Zahl der Obdachlosen bereits im Jahr 2019 auf mindestens 15.000. Eine Erhebung unter der Vorgängerregierung im Jahr 2016 zählte rund 14.000 Bewohner Rios ohne Bleibe.
Ob sich die Situation mit der neuen Stadtregierung ändern wird, ist fraglich. Zwar betonte der neue Bürgermeister und Amtsvorgänger von Crivella, Eduardo Paes von der Mitte-rechts-Partei PMDB (Partido do Movimento Democráctico Brasileiro), bei seinem Amtsantritt vergangenen Freitag, die Bekämpfung der Armut sei eine »Priorität« seiner Regierung. Dazu gehöre auch, »geeignete Maßnahmen für die obdachlose Bevölkerung umzusetzen«. Doch das nehmen ihm viele nicht ab. Während seiner Amtszeit von 2009 bis 2016 hatte Paes den Haushalt der Stadt systematisch geplündert, milliardenschwere Fehlinvestitionen zur Weltmeisterschaft und den Olympischen Spielen taten ihr übriges. Während der Pandemie ist der Schuldenberg der Metropole am Zuckerhut weiter gewachsen, zusätzlich wurden Millionen zur Bekämpfung der Coronakrise bestimmte öffentliche Gelder veruntreut. Unter anderem deshalb steht der abgewählte Bürgermeister Crivella seit Mitte Dezember wegen Korruptionsverdachts unter Hausarrest.