Ende einer Fiktion
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Venezuela: Guaidó könnte zur Rechenschaft gezogen werden. Anzeichen für Wegbrechen internationaler Unterstützung
Von Frederic Schnatterer
Ist es das Ende der Fiktion eines »Übergangspräsidenten« Juan Guaidó? Nachdem sich am Dienstag die venezolanische Nationalversammlung in ihrer neuen Besetzung konstituiert hatte, kündigte am Donnerstag (Ortszeit) die frisch gewählte Vizepräsidentin des Parlaments, Iris Varela, Untersuchungen gegen Teile der rechten Opposition an. Dafür werde ein Ausschuss eingerichtet, der die »gegen die Republik gerichteten Aktionen« einiger Abgeordneter der vorherigen Nationalversammlung untersuchen solle, zitierte sie der lateinamerikanische Nachrichtensender Telesur. Den Vorsitz übernehme der Oppositionelle José Brito, womit sichergestellt werden solle, dass die Untersuchungen »nicht von politischen Interessen des Chavismus« dominiert werden.
Aus den Wahlen am 6. Dezember war das Bündnis »Großer Patriotischer Pol«, dem auch die Regierungspartei PSUV angehört, als eindeutiger Sieger hervorgegangen. Fortan gehören 90 Prozent der Abgeordneten dem Regierungslager an. Die rechte Opposition, die zum Teil die Abstimmung boykottiert hatte, verlor mit dem Beginn der Legislaturperiode der neuen Nationalversammlung nunmehr auch offiziell die letzte von ihr kontrollierte Institution.
Auch wenn am Donnerstag keine Namen genannt wurden: Es ist unschwer zu erraten, dass der rechte Oppositionspolitiker Juan Guaidó im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen dürfte. Er hatte sich Anfang 2019 in seiner Funktion als Vorsitzender der Nationalversammlung selbst zum »Übergangspräsidenten« des Landes ausgerufen. Trotz der Unterstützung aus Washington, der Europäischen Union und einer Reihe lateinamerikanischen Staaten, brutaler Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela und mehrerer bewaffneter Umsturzversuche sitzt die Regierung um Präsident Nicolás Maduro jedoch weiter fest im Sattel.
Ganz im Gegensatz zu Guaidó, der mit dem Auslaufen seines Abgeordnetenmandats auch seine Immunität verloren hat. Am 1. Januar forderte die KP Venezuelas sodann auch die Verhaftung und Verurteilung des Politikers. Auch der neugewählte Parlamentspräsident Jorge Rodríguez mahnte diese Woche an, dass »Verbrechen, die von einer Gruppe politischer Akteure während der vergangenen Legislaturperiode gegen die Nation begangen wurden, nicht ungesühnt bleiben« dürften.
Dessen ungeachtet spuckt Guaidó weiter große Töne. Am Dienstag inszenierten er und seine Gefolgsleute die Eröffnung eines eigenen »Parlaments«, nachdem sie das Mandat der letzten Nationalversammlung zuvor eigenmächtig und verfassungswidrig um ein Jahr verlängert hatten. Dessen Mitglieder seien weiterhin »die legitimen Gesetzgeber des Landes«, ließ der Oppositionspolitiker wissen. Nach seiner erneuten Wahl zum »Parlamentspräsidenten« erklärte Guaidó zudem, im Jahr 2021 werde er den »Übergang zur Demokratie wahr werden« lassen – dank »der Unterstützung der internationalen Verbündeten«.
Ob Guaidó jedoch auch weiterhin auf die Unterstützung aus dem Ausland hoffen kann, ist keineswegs ausgemacht. Während die USA, Kanada und lateinamerikanische Rechtsregierungen wie die Kolumbiens, Chiles und Brasiliens am Dienstag erklärten, weiter auf den Rechtspolitiker setzen zu wollen, ließ die Europäische Union aufhorchen. In einer am Mittwoch über das Büro ihres Außenbeauftragten Josep Borrell veröffentlichten Mitteilung heißt es zwar, die Union erkenne die neue Nationalversammlung nicht an. Statt Guaidó jedoch wie gewohnt als »Übergangspräsidenten« zu betiteln, war nur vom »Vertreter« der »ausgehenden« Nationalversammlung die Rede.
Auch wenn mehrere EU-Staaten – unter ihnen die Bundesrepublik – direkt im Anschluss zurückruderten und erklärten, ihre Unterstützung für den Oppositionspolitiker habe sich keineswegs geändert: Die Wortwahl der Mitteilung lässt zumindest vermuten, dass das Festhalten an Guaidó angesichts dessen ausbleibender Erfolge nicht mehr unumstritten ist. Gut möglich auch, dass sich die Europäische Union noch mehrere Optionen offenhalten will, bis am 20. Januar der neue US-Präsident Joseph Biden sein Amt antritt. Denn auch wenn klar ist, dass auch Biden auf ein Ende der Präsidentschaft von Maduro drängen wird, ist noch nicht abzuschätzen, wie genau die Venezuela-Strategie Washingtons unter seiner Ägide aussehen wird.
In der jüngsten Vergangenheit hatten Vertraute des designierten US-Präsidenten angedeutet, die künftige Regierung könnte zumindest wieder direkten Kontakt mit Maduro aufnehmen. Darauf setzen auch andere Teile der venezolanischen Opposition, die sich angesichts der verfahrenen Situation immer weiter zersplittert. Bereits Anfang Dezember hatte der zweimalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles in einem Interview mit BBC Español erklärt, Guaidó und dessen Konfrontationskurs seien »gescheitert«. Nun gehe es darum, mit Hilfe der USA sowie der EU »Bedingungen für faire Wahlen« auszuhandeln.
Auf Dialog setzt auch die neue Nationalversammlung. Am Donnerstag beschlossen die Abgeordneten die Bildung eines Ausschusses, mit dessen Hilfe ein neuer Mechanismus des politischen Dialogs ausgearbeitet werden soll, wie die spanische Nachrichtenagentur Efe berichtete. Dieser soll von Parlamentspräsident Rodríguez angeführt werden. Der erklärte, die Türen des Parlaments stünden »den Arbeitern, den Studenten, den Bauern und den politischen Parteien« offen. Auch die oppositionellen Kräfte, die nicht an der Parlamentswahl teilgenommen hatten und die die neue Nationalversammlung nicht anerkennen, seien dazu eingeladen, am Dialog teilzunehmen.