Welt schaut nach Caracas
Inmitten sozialer und wirtschaftlicher Krise: Venezuela wählt neue Nationalversammlung. Präsident will politisches Schicksal dem Volk überlassen
Von Volker Hermsdorf
Mehr als 20 Millionen Venezolaner sind am Sonntag zur Wahl von 277 Abgeordneten der Nationalversammlung aufgerufen, die ihre bis Anfang 2026 laufenden Mandate am 5. Januar 2021 antreten. Wie der Nationale Wahlrat (CNE) mitteilte, bewerben sich mehr als 14.000 Kandidaten aus 107 Parteien und Organisationen um einen Sitz in der mit 277 gegenüber den bisher 167 Abgeordneten bislang größten Nationalversammlung.
Die meisten Bewerber wurden von rechtskonservativen Oppositionsparteien aufgestellt, die ihre Chancen zum Teil durch Wahlbündnisse verbessern wollen. So haben sich fünf Mitte-rechts-Parteien unter dem Namen »Demokratische Allianz« (Alianza Democrática) zusammengeschlossen und treten mit Einheitskandidaten an. Der Präsidentschaftskandidat der Opposition von 2012 und 2013, Henrique Capriles Radonski, und seine Bewegung »Die Kraft ist der Wandel« (La Fuerza es el Cambio) haben eine Zusammenarbeit mit der Partei »Avanza Progresista« (Progressiver Fortschritt) des 2018 gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Henri Falcón vereinbart.
Für das linke Lager bewerben sich das Bündnis des »Großen Patriotischen Pools« (Gran Polo Patriótico), zu dem die Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) von Präsident Nicolás Maduro und acht weitere Parteien gehören. Die Linksallianz der »Revolutionären Volksinitiative« besteht aus der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) und mehreren chavistischen Basisgruppen. Der von den USA und rund 50 der 193 UN-Mitgliedstaaten noch immer als »Übergangspräsident« bezeichnete Oppositionspolitiker Juan Guaidó und seine Gefolgsleute boykottieren die Wahl. Damit schaffe dieser Teil der Opposition sich selbst ab, hatte die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung unter der Überschrift »Guaidós letzte Bastion fällt« bereits im Juli gewarnt.
Die Wahlen finden inmitten einer schweren sozialen und wirtschaftlichen Krise statt, deren Auswirkungen auf die Bevölkerung durch die Coronapandemie und ständig verschärfte US-Sanktionen weiter verstärkt wurden. Die PCV wirft der Regierung von Nicolás Maduro allerdings vor, die Situation durch eine »reformistische, sozialdemokratische und kapitalfreundliche Politik« und fehlerhaftes Management zusätzlich verschlimmert zu haben. Der Internationale Sekretär der PCV, Carolus Wimmer, verwies in einem Interview der DKP-Wochenzeitung Unsere Zeit auf eine Umfrage, der zufolge 62 Prozent der Venezolaner weder der Regierung noch der rechten Opposition vertrauen und fordert eine »revolutionäre Lösung der Krise«. Statt Reprivatisierung von Staatsbetrieben müsse eine »totale politische Kursänderung« erfolgen, zu der unter anderem eine Bodenreform und eine stärkere Kontrolle der Produktionsprozesse durch die Werktätigen gehöre.
Maduro verwies zum Abschluss seiner Wahlkampagne dagegen auf die »trotz der Angriffe und Sanktionen ausländischer Mächte« fortgeführten Sozialprogramme und kündigte an, dass in den nächsten Tagen das 3,3millionste Haus an Bedürftige übergeben wird. Am Sonntag entscheide sich, ob dieser Kurs fortgesetzt werden könne. »Mein politisches Schicksal überlasse ich dem Volk«, erklärte der Staatschef und kündigte seinen Rücktritt an, falls sein »Gran Polo Patriótico« die Wahl nicht gewinnt.
Deren Ergebnis wird weltweit mit Spannung erwartet. Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua spekulierte, dass nach der Wahl »ein Dialog mit den demokratischen Teilen der Opposition eröffnet wird, die auf politische Lösungen der innenpolitischen Konflikte setzen«. Die Wahlen seien »Ausdruck des Volkswillens« und sollten »von der gesamten internationalen Gemeinschaft anerkannt werden«, erklärte Chinas Botschafter Li Baorong in Caracas. Auch Russland sieht in den Wahlen den »effektivsten und demokratischsten Weg zur Lösung der Differenzen in Venezuela«. Außenamtssprecherin Maria Sacharowa verurteilte am Donnerstag »das Interesse einiger Kräfte, das Land weiter zu destabilisieren«. Damit dürften vor allem die USA gemeint sein, die das Wahlergebnis bereits vorab als »Betrug« bezeichneten.
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