Restauration gescheitert
Jahresrückblick 2020. Heute: Bolivien. Linke Bewegung zum Sozialismus gewinnt Wahlen. Morales kehrt aus Exil zurück
Von Volker Hermsdorf
Den größten Teil des zu Ende gehenden Jahres litt Boliviens Bevölkerung unter den neoliberalen Experimenten und der Gewaltherrschaft eines diktatorischen Regimes, das sich im November 2019 mit Unterstützung der Trump-Regierung und der von Washington dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) an die Macht geputscht hatte. Erst mit dem Erdrutschsieg der linken Bewegung zum Sozialismus (MAS) bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 18. Oktober kehrten in Bolivien wieder demokratische Zustände ein. Der ins Exil gejagte indigene Expräsident Evo Morales konnte am 9. November, einen Tag nach dem Amtsantritt des neuen Staats- und Regierungschefs Luis Arce, in sein Land zurückkehren. Die von Präsident Arce und dessen Stellvertreter David Choquehuanca geführte neue Regierung versucht unterdessen, die während der Diktatur angerichteten wirtschaftlichen und politischen Schäden zu beseitigen.
Trümmerfeld
Gut ein Jahr nach dem Staatsstreich hatten Arce und Choquehuanca vom Regime der Putschisten ein wirtschafts- und sozialpolitisches Trümmerfeld übernommen. Die Wirtschaft war gelähmt und von Korruptionsskandalen erschüttert, die staatlichen Investitionen waren um 66 Prozent zurückgefahren worden. Im Land war kaum Geld im Umlauf, das Gesundheitswesen nahezu zerstört, und das Bildungssystem lag am Boden. Die wichtigste Herausforderung sei der Wiederaufbau des Landes, erklärte der 57jährige Arce, unter Morales Wirtschaftsminister, nach Antritt seines Amtes. Die Situation in Bolivien sei ein »Ergebnis der von den Rechten durchgesetzten Klasseninteressen der kleinen reichen Oberschicht«, doch die Restauration der Oligarchie sei gescheitert.
Der Präsident kündigte »grundlegende Maßnahmen und staatliche Investitionen zur Stärkung der Binnennachfrage« an. »Wir sind bereits dabei, die neoliberalen Strukturen zugunsten weniger zu beseitigen und ein wirtschaftliches und soziales Modell im Dienst von Millionen Menschen wiederaufzubauen«, erklärte die von Arce zur Ministerin des Präsidialamtes ernannte Wirtschaftsexpertin María Nela Prada Anfang Dezember.
Als eine der ersten Maßnahmen wurden Soforthilfen an die von der – durch die Coronapandemie verschärften – ökonomischen Krise am stärksten betroffenen Personen, darunter Hilfsbedürftige, Erwerbslose und Menschen mit Behinderungen, ausgezahlt. Insgesamt sollen laut Arce rund vier der insgesamt elf Millionen Bolivianer mit der »Hilfe gegen den Hunger« in die Lage versetzt werden, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und zugleich die Binnennachfrage ankurbeln. Auch eine teilweise Senkung der Mehrwertsteuer und das Ziel der Gleichstellung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt sollen dazu beitragen. »Es darf in Bolivien keinen Bereich geben, weder privat noch öffentlich, in dem Frauen und Männer nicht dieselbe Bezahlung für gleichwertige Arbeit erhalten«, verkündete Innenminister Carlos del Castillo.
Große Herausforderungen
Die Finanzierung der Maßnahmen soll unter anderem durch eine stärkere Besteuerung von Großverdienern abgesichert werden. Da das bolivianische Unternehmen Quantum Motors im Llajta-Gewerbegebiet bei Cochabamba seit September 2019 ein im Land entworfenes, eigenes Elektroauto produziert, wird auch der Import von Kraftfahrzeugen erschwert, um die heimische Automobilindustrie zu unterstützen. Wirtschaftsexperten halten – nach einem Einbruch von mehr als elf Prozent in der zweiten Hälfte dieses Jahres – für 2021 ein Wachstum von mindestens vier Prozent für möglich.
Der Optimismus stützt sich auch auf den Ressourcenreichtum und die großen Energiequellen des Landes. Am 24. Dezember gab Arce die Entdeckung eines neuen »Megagasfeldes« bekannt, das er als »Geschenk von Pachamama« bezeichnete. Erdgas ist eine der Haupteinnahmequellen des Andenstaates. Mit – nach eigenen Schätzungen – 21 Millionen Tonnen verfügt Bolivien zudem über die weltweit größten Lithiumreserven. Die Einnahmen aus dem auch für E- Auto-Batterien benötigten Rohstoff bieten gute Chancen, die Armut zu bekämpfen, das Gesundheits- und Bildungssystem auszubauen sowie Verkehrs- und Infrastrukturprojekte voranzutreiben. Neben Vorteilen birgt der Rohstoffreichtum aber auch Gefahren, wie Tesla-Chef Elon Musk am 24. Juli mit einem – mittlerweile gelöschten – Tweet nach dem Staatsstreich gegen Morales provozierend deutlich machte. »Wir werden putschen, gegen wen immer wir wollen«, schrieb der Milliardär damals unheilverheißend.
Innenpolitisch steht die Regierung neben einer Reorganisation des Polizei- und Militärapparats vor allem vor der Herausforderung, die Folgen der Coronapandemie abzufedern. Dazu gehört auch die Sanierung des ruinierten Gesundheits- und des Bildungswesens. Als einziges Land der Region hatte Bolivien alle Schulen, mit Ausnahme von privaten und gebührenpflichtigen Einrichtungen, geschlossen und damit das Recht auf Bildung für die meisten Kinder ausgesetzt. Die landesweite Garantie des Unterrichts gehört deshalb jetzt zu den prioritären Aufgaben.
Anfang des Jahres könne zudem mit Impfungen gegen Corona begonnen werden, kündigte Gesundheitsminister Edgar Pozo am Donnerstag an. »Wir haben dafür gesorgt, dass zwischen 2,5 und drei Millionen Impfstoffdosen über Covax bei uns eintreffen«, erklärte er. Neben der Zusage der von der WHO koordinierten Covax-Initiative, die einen weltweit gerechten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen gewährleisten will, würden Verhandlungen mit internationalen Organisationen und Pharmaunternehmen über die Lieferung weiterer Vakzine laufen. Das Gesundheitsministerium hoffe, dass sechs Prozent der Bevölkerung in den ersten vier Monaten geimpft werden können, sagte Pozo.
Raus aus der Isolation
In der Außenpolitik führt die Linksregierung das Land konsequent aus der internationalen Isolation. Fünf Wochen nach Übernahme der Amtsgeschäfte kündigte Außenminister Rogelio Mayta die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Venezuela, Mexiko, Kuba, Nicaragua, Iran und Argentinien sowie die Normalisierung des Verhältnisses zu China und Russland an. Der Abbruch von Beziehungen zu »befreundeten Staaten« durch die Putschregierung »auf Befehl der Vereinigten Staaten« habe »unnötige Spannungen« erzeugt sowie Stabilität und Frieden in der Region gefährdet.
Arce hatte bereits kurz nach seiner Wahl versprochen, Bolivien in die aus 33 Ländern bestehende Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) zurückzuführen. Am 14. Dezember verkündete der Präsident auch die offizielle Rückkehr des Landes in das Staatenbündnis ALBA-TCP (Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas – Handelsvertrag der Völker), eines der wichtigsten Integrationsprojekte der lateinamerikanischen Linken. Auf dem – in diesem Jahr wegen der Covid-19-Pandemie – virtuellen 18. Gipfeltreffen der Organisation erklärte Arce: »Wir bekräftigen unser Bekenntnis zu den Prinzipien der Solidarität, der Zusammenarbeit, des gegenseitigen Respekts für das Leben in unseren Ländern, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und die Achtung der kulturellen Vielfalt.«
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