Kuba: Mehr Demokratie wagen?
04.12.2020: oppositionelle Kräfte organisieren Demo für Meinungsfreiheit vor Kulturministerium ++ linke Jugendliche, Intellektuelle und Künstler*innen antworten mit spontaner Demonstration „Tángana im Trillo“ für einen stärkeren Sozialismus durch mehr Demokratie: „wenn die revolutionäre Linke nicht den Kampf für den sozialistischen Rechtsstaat führt, gibt sie diesen Raum für die Reaktion frei“
„Was können wir tun? Wir können nicht länger schweigen!“ Das war die Prämisse einer Gruppe von Jugendlichen, Intellektuellen und Künstler*innen in einem Telegramm-Chatroom. Brainstorming. Name. Ort. Ziel: die Jugend, das Volk zur Verteidigung der Revolution aufzurufen. Das ist alles.
Die Internetseite „Tángana im Trillo“ entstand und von dort aus Texte erstellen, teilen, mobilisieren.
So beschreibt die Zeitschrift »Cubadebate« den Anfang einer Kampagne, die am vergangenen Sonntag (29.11.) mit einer großen Kundgebung und Kulturveranstaltung Tángana (deutsch: Durcheinander, Krach) im Parque Trillo im Zentrum Havannas eine vorläufigen Höhepunkt fand.
Der Aufruf für die Aktivität im Trillo-Park war anfangs spontan. Sie kam hauptsächlich von einer Gruppe junger Menschen, die durch soziale Netzwerke miteinander verbunden sind, weil sie ähnliche politische Meinungen haben. Es sind junge Menschen, die der Realität, in der sie leben, kritisch gegenüberstehen, die aber der Meinung sind, dass die Verteidigung der kubanischen Revolution mit der Verteidigung des kubanischen Staates gegen die Aggressionen seiner äußeren Feinde einhergeht.
Demonstration für Meinungsfreiheit vor dem Kulturministerium
Der Aufruf zu dieser spontanen Veranstaltung am Sonntag erfolgte, nachdem es am Freitag (27.11.) zu einer Demonstration vor dem Kulturministerium MINCULT gekommen war. Initiator war die Künstler*innen-Aktivistengruppe El Movimiento San Isidro (MSI), von der einige Tage vorher Mitglieder in einen Hungerstreik getreten und das von ihnen besetzte Haus von der Polizei geräumt worden war. Unterstützer*innen nutzten Facebook, YouTube und andere soziale Medienplattformen, um die Presse und die internationale Gemeinschaft auf das aufmerksam zu machen, was sie als Unterdrückung der Rede- und Meinungsfreiheit durch die kubanische Regierung ansehen. Die US-Regierung und die US-Botschaft in Havanna erklärten ihre Unterstützung für das MSI und deren Forderungen.
Die spontane Demonstration vor dem Kulturministerium ging jedoch weit über das Spektrum des MSI hinaus. Beobachter*innen schreiben, dass viele Menschen, vor allem junge Menschen und vor allem Künstler*innen und Intellektuelle, die Gelegenheit zum Anlass nahmen, um größeren Respekt für Pluralismus und politische Vielfalt, für die Beendigung der Zensur in der Kunst usw. zu fordern. Die Demonstration sei Ausdruck dafür, dass sich die Beziehungen zwischen dem Staat und diesem Teil der Zivilgesellschaft so sehr verschlechtert haben, dass dissidente Gruppen wie das MSI unter der Fahne von Demokratie und Meinungsfreiheit Anklang finden.
Angesichts der Informationen, die über die Verbindungen einiger Mitglieder der San-Isidro-Bewegung mit US-Agenturen verbreitet wurden, und der Darstellung, dass die Demonstration vor dem Kulturministerium ausschließlich der Unterstützung der Sache dieser Gruppe diente, kamen die Organisator*innen von „Tángana im Trillo“ zu dem Schluss, dass eine öffentliche Demonstration notwendig sei, um auch für die revolutionäre Linke die Spontaneität zu beanspruchen.
Die Tángana fanden vor dem Denkmal für Quintín Banderas, einem militärischen Führer des kubanischen Aufstands gegen die Spanier während des kubanischen Unabhängigkeitskrieges, statt. Der Parque Trillo in dem die Tángana stattfand war ebenfalls gut gewählt. „Als ich eine Nachbarin fragte, was und warum sie dort war, erklärte die Frau, die auf eine Parkbank kletterte, um einen besseren Blick zu bekommen, ganz klar: ‚Die Leute haben hier ihre eigene Meinung. Aber dieses Barrio ist »Heimat oder Tod«. Es gibt hier niemanden, der sich mit der Revolution anlegt'“, berichtet Arleen Rodríguez Derivet in Cubadebate.
„Tángana im Trillo“
Iramís Rosique Cárdenas, der die Veranstaltung am Sonntagnachmittag um 16 Uhr eröffnete, sagte: „Keiner von uns – den Organisator*innen – ist ein Staatsfunktionär oder ein professioneller Kader, dessen Aufgabe es war, auf diese Weise auf die Ereignisse der letzten Tage zu reagieren. (Anm.: siehe oben) Das virtuelle Kollektiv, in dem all dies erdacht und konzipiert wurde, setzt sich aus einem vielfältigen Spektrum von Bürger*innen zusammen: Es gibt Studenten, Beschäftigte in Unternehmen und Institutionen, Selbständige und sogar Arbeitslose. Wir kommen aus verschiedenen Berufen, Provinzen, Altersgruppen zusammen… Diese Vielfalt hat jedoch ein verbindendes Prinzip: eine linke politische Militanz.“
Iramís Rosique bekräftigte, dass diese Kundgebung gegen aktuelle Diskurse gerichtet ist, die dem antikommunistischen Klischee verhaftet sind, dass Sozialismus nicht mit Freiheit und Demokratie zu vereinen wäre. Im Gegenteil: „Wir behaupten, dass die Kämpfe für Demokratie und Freiheit dem revolutionären sozialistischen Projekt inhärent sind, und wir sind ihnen verpflichtet.“ Wenn über Demokratie gesprochen werde, dann müsse auch über Volksmacht, soziale Gerechtigkeit und eine „demokratische und integrative Wirtschaft, die auf Zusammenarbeit beruht“ gesprochen werden.
„Für uns kann es nur einen Weg geben, um die Revolution zu unterstützen und zu verteidigen: es zu tun.“
Iramís Rosique Cárdenas
Er setzte sich auch mit den Vorwürfen auseinander, dass die Aktion vom Ausland gesteuert und gegen den Sozialismus gerichtet sei. Dieser Vorwurf komme von Menschen, die „die Möglichkeit jeder revolutionären Spontaneität leugnen“ und deren „Diskurs auf der Idee aufbaut, dass die Regierung alles kontrolliert und was sie nicht kontrolliert, verboten ist“. Dem setzte er entgegen, dass sich die Revolution selbst kritisieren müsse und dass die „Institutionen“ sich mit Tángana verständigt hätten. „Ja, wir existieren, „weil die Revolution die formalen Institutionen, die sie verwalten, überfordert“, sagte er. (vollständige Rede hier)
Die Revolution vollenden
Claudia Damiani Cavero, die von sich selbst sagte, dass sie sich „von der Politik losgesagt und sie gemieden“ habe, weil diese als „etwas Fremdes, von oben gemacht“ gesehen werde, rief dazu auf, die „Trägheit“ zu überwinden und „die Revolution wiederzubeleben, ihren revolutionären Geist wieder zu wecken“. Voraussetzung sei, so die 29-jährige Literatin und Absolventin des Centro Nacional de Formación Literaria, dass „die Basis, die Zivilgesellschaft, die Menschen“ einbezogen werden, und dass sie wissen, „dass die Entscheidungen der Gesellschaft von der Gesellschaft getroffen werden und dass der Staat ihr nicht fremd ist“.
„Die Revolution muss vollständig sein: feministisch, vielfältig, integrativ, ökologisch und antikapitalistisch.“
Claudia Damiani Cavero
Die Bedingung dafür sei soziale Gerechtigkeit. „Wir können nicht über Demokratie und Volksmacht sprechen, ohne soziale Gleichheit vorauszusetzen. Und soziale Gleichheit gibt es, wenn es keinerlei Privilegien gibt.“ Die Revolution könne sich nicht zufrieden geben, solange Diskriminierungen jeder Art nicht nur institutionell, sondern auch im alltäglichen Leben überwunden sind. “ Aber wenn die Linke nicht ausreichend feministisch, antihomophobisch, ökologisch, antirassistisch und demokratisch ist, wird sie diese Anliegen verraten.“ (vollständige Rede hier)
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