»Kommune oder nichts!«
Der venezolanische Sozialismus von Hugo Chávez wird in der Landwirtschaftskommune »Pedro Camejo« mit Leben erfüllt
Von José Luis Scioscia, Mérida
Sonnabend nachmittag gegen drei Uhr. Mehr als zehn Männer und Frauen sitzen unter freiem Himmel an einem Berghang mit Blick auf Mérida, die Hauptstadt des gleichnamigen venezolanischen Bundesstaats. Wir haben seit dem frühen Morgen auf dem Gelände der Kommune geschuftet. Es ist unser Bauernhof, das ökonomische Projekt der Landwirtschaftskommune »Pedro Camejo«. Und nun wird ausgeruht. Endlich ist auch die auf Holzfeuer gekochte Sancocho fertig, eine einheimische Suppe mit viel Gemüse und ein wenig Fleisch.
Es wird über das Projekt geredet, den kommunalen Staat – Volksmacht. Aber es werden auch Witze gerissen, man macht sich über die Opposition lustig, mitunter auch über die Unzulänglichkeit der Regierung. Wir sind an der Macht, aber nicht alles läuft so, wie es laufen sollte. Ja, der kommunale Staat, die gigantische Idee unseres Giganten, des Schöpfers der Idee vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts, unseres Kommandanten Hugo Chávez, der leider am 5. März 2013 von uns ging.
Der kommunale Staat
Die Kommune ist die höchste und wichtigste Vertretung der Volksmacht in Venezuela. Chávez war ihr maximaler Förderer und Verteidiger, und er war der erste Regierungschef, der auf klare Weise die Neuordnung der Macht zugunsten des Volkes vorantrieb. Als Sozialist glaubte er zutiefst daran, dass die Macht ausschließlich auf dem Willen der Bürger beruht und das Volk Entscheidungsträger seines Schicksals sein muss. In seiner Sozialagenda, die er als Sozialismus des 21. Jahrhunderts bezeichnete, spielt der kommunale Staat die vorherrschende Rolle.
Für Chávez beinhaltete die Kommune Menschen, die in einem definierten Territorium und mit einem gemeinsamen historischen Gedächtnis zusammenleben, gekennzeichnet durch kulturelle Praktiken und Bräuche, die von der Mehrheit der Bewohner dieses Territoriums als einheimisch, zum Ort gehörend, anerkannt werden. In der Kommune selbst soll das menschliche Kollektiv mit der im Unterbewusstsein verankerten Logik individualistischer und egoistischer Wohlstandserzeugung brechen und sich in kollektive Prozesse der Arbeit und des friedlichen Zusammenlebens integrieren. Dabei werden das Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit durch mitverantwortliche Teilnahme an der Verwaltung der öffentlichen Politik gefördert.
In der kommunalen Selbstverwaltung treffen die Bürger mittels Gemeindeversammlungen die Entscheidungen über ihre Anliegen, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung ihrer Gemeinde wird dort strategisch geplant. Eigenständige Projektformulierung, Haushaltsvorbereitung und -ausführung dienen als Mechanismen der Dezentralisierung der Exekutivmacht und der Ermächtigung der Bürger. Entschieden wird über den Aufbau eines Produktionssystems, das durch die Bildung und Ausübung der Selbstverwaltung gekennzeichnet ist. Durch den Prozess des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und den Austausch von Waren zur Erreichung sozialer Gerechtigkeit und Koexistenz konstituiert sich der Weg zur sozialistischen Gesellschaft.
Diese auf Selbstverwaltung basierende Organisationsform hat ihren Weg in unserer Gesellschaft am 21. Dezember 2010 mit der Veröffentlichung im Außerordentlichen Amtsblatt Nr. 6.011 mit Nachdruck begonnen. Das Volk sollte sich von der Basis her organisieren, während die sozialistische Regierung die Macht über die großen, strategisch wichtigen Industrien behielt.
Hindernisse auf dem Weg
Aber seither ist Zeit vergangen, und trotz des vielversprechenden Horizonts, den Kommandant Chávez eröffnete, haben es die Kommunen nicht geschafft, ihr wahres Potential in der sozialen und wirtschaftlichen Organisation des Landes Realität werden zu lassen. Aus unserer Sicht gibt es viele bürokratische, bürgerliche, kommerzielle und hegemoniale Interessen, die sich im Laufe der Jahre verschworen haben, um eine korrekte Entwicklung der Kommunen zu verhindern, mit der diese ihren rechtmäßigen Platz sowohl in der Verfassung als auch in der venezolanischen Gesellschaft eingenommen hätten. Sogar der Vorschlag, den Präsident Nicolás Maduro in seinem Aufruf zur Schaffung der Nationalen Verfassunggebenden Versammlung 2017 unterbreitet hat und der die Aufnahme der Kommunen und des kommunalen Staates in die neue Verfassung vorsieht, ist drei Jahre später noch nicht einmal andiskutiert worden, und seine Existenz soll oft verschwiegen werden.
In einer seiner letzten öffentlichen Reden, mitten während eines Ministerrats im Oktober 2012, erkannte Kommandant Chávez die langsame, zersplitterte, fehlerhafte und ineffiziente Art und Weise, mit der der Aufbau des Kommunalstaates, von dem er träumte, ausgebremst wurde. Er tadelte seine Minister öffentlich und übte Kritik, die auch heute noch mehr als gültig ist. Er dachte laut darüber nach, wie der kommunale Prozess trotz seiner Anweisungen und Bemühungen ins Hintertreffen geraten konnte, und fragte in verwarnendem Ton, was noch getan werden müsse, um sicherzustellen, dass seine Richtlinien befolgt würden: »Werde ich denn weiterhin in die Wüste hinein nach solchen Dingen schreien?« Damals rief er eine der bedeutendsten Parolen für den venezolanischen Sozialismus aus: »Kommune oder nichts!«
Die Geschichte hat uns gelehrt, dass der Kapitalismus ein erbarmungsloser Feind ist, der ausschließlich seinen eigenen Interessen dient. Ein wichtiger Vorteil, den das venezolanische Volk allerdings hat, besteht darin, dass wir unseren Feind auf diesem schwierigen, zwanzigjährigen Weg eingrenzen konnten, dass wir ihn kennen und wissen, wozu er fähig ist. Und wir wissen auch, wie wir ihm in Einigkeit und mit Kraft entgegentreten können. Vor diesem Hintergrund hat sich ein großer Teil der Menschen organisiert, um der Destabilisierung und der Wirtschaftsblockade entgegenzutreten.
Internationale Solidarität
Unterstützung erhalten wir durch den Genossen Rüdiger Wilke aus Deutschland, der uns über den gemeinnützigen Verein WIBP e. V. selbstlos eine helfende Hand gereicht hat. Nach mehreren Diskussionen gründeten wir die »Agroproduktive Kommune ›Pedro Camejo‹«, die acht Stadtteile Méridas umfasst und in der 3.200 Familien leben. Sie hat den klar definierten Zweck, sozialen Wohlstand für alle zu schaffen. Unsere Kommune hat ein Kommunalparlament, das Beratungs- und Entscheidungsgremium ist, und den Exekutivrat, der diese Entscheidungen zum Nutzen aller umsetzt. Desweiteren gibt es einen Rat der kommunalen Wirtschaft, eine Kommunalbank und einen Rat der sozialen Kontrolle, die für die Verwaltung der wirtschaftlichen Ressourcen und die Gewährleistung ihrer ordnungsgemäßen Verwendung verantwortlich sind.
Wir begannen unseren Weg hin zur Kommune am 20. Februar 2020, als wir unsere Vertreter wählten, die die Gemeinde bei den Volkswahlen repräsentieren würden. Daran nahmen 70 Prozent der Abstimmungsberechtigten über 15 Jahren aus diesen acht Gemeinden teil. Danach begannen wir mit den Entscheidungsversammlungen, die in jeder Gemeinschaft stattfinden. Dort sammeln die verschiedenen Vertreter vor dem Kommunalparlament die Vorschläge zu Bereichen wie Ernährung, Straßenbauwesen, Sicherheit, Gesundheit und Bildung. Diese werden dann im Kommunalparlament diskutiert und mögliche Lösungen vorgeschlagen. Dann werden die konkreten Lösungsvorschläge der Gemeinde zur Genehmigung vorgelegt. Auf diese Weise wird ein wirklich demokratischer und offener Entscheidungsprozess gewährleistet und der Wille der Mehrheit umgesetzt.
Das erste Ziel, das wir uns in der Kommune setzten, war die Rückeroberung der landwirtschaftlichen Nutzflächen unseres Geländes, die wegen des Mangels an Saatgut und Betriebsmitteln unproduktiv waren. Wir wohnen in einem dichtbesiedelten Stadtbezirk und können unser Gelände trotzdem in höchstens 30 Minuten zu Fuß erreichen. Es befindet sich auf einem an Wohngebiete anschließenden Berghang, der mehrere Hektar groß ist und von wo aus wir einen wunderschönen Blick auf die Innenstadt und die gegenüberliegenden Anden haben. Das Gelände gehört einem unserer Genossen, der davon 80 Prozent unserem Projekt zur Verfügung gestellt hat.
Wir beschlossen, unsere freiwillige Arbeitsbrigade zu gründen, benannt nach Fabricio Ojeda, einem Guerillakämpfer aus den 1970er Jahren. Konkret hat unsere Kommune 96 Mitglieder, und die Arbeitsbrigade besteht aus 26 Personen. Aber tatsächlich sind wir 97 und 27. Denn der deutsche Genosse Bernhard Heidbreder gehört auch zu uns, taucht aber in den Kommuneakten nicht auf. Er besitzt keine Personalpapiere, ist staatenlos. Seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert verfolgt die deutsche Justiz ihn, Peter Krauth und Thomas Walter wegen eines Sprengstoffanschlags auf die Baustelle des leerstehenden Abschiebegefängnisses in Berlin/Grünau am 11. April 1995. Ein Anschlag, der allerdings nie ausgeführt wurde.
Mit abenteuerlichen juristischen Konstruktionen hat die Bundesanwaltschaft (BAW) dafür gesorgt, dass sie weiter nach den dreien fahnden kann, obwohl die ursprünglichen Vorwürfe, nämlich ein Gebäude der Bundeswehr zerstört und eine »terroristische Vereinigung« gebildet zu haben, längst verjährt sind. Als Grund der Strafverfolgung muss jetzt die angebliche »Verabredung zu einer Straftat« herhalten, deren Verjährung absurderweise länger hinausgezögert werden kann als bei der Straftat selbst. Proteste bis vor die höchsten juristischen Instanzen waren zwecklos. Die BAW darf sie weiter belangen und sorgt mit Neuauflagen der sogenannten roten Ausschreibung von Interpol dafür, dass sie selbst im fragilen venezolanischen Exil nicht in Ruhe gelassen werden. Unlängst führte das zur monatelangen Festsetzung von Peter. Wir von der Kommune kennen nur unseren Genossen Bernhard, mit dem wir seit über zehn Jahren eng zusammenarbeiten. Die drei haben im Jahr 2016 bzw. 2017 in Venezuela Anträge gestellt, als Flüchtlinge aufgenommen zu werden. Bisher wurde keine Entscheidung getroffen, und die Kommune solidarisiert sich mit dem Anliegen der Genossen.
Selbstbestimmt Leben
Das Ziel unserer Kommune ist, die nationale Souveränität zu verteidigen und in unseren Gemeinden in Bezug auf Nahrungsmittel unabhängiger zu werden. Mit unseren einfachen Arbeitswerkzeugen begannen wir zu säen, um Saatgut für landwirtschaftliche Erzeugnisse mit hohem täglichen Bedarf produzieren zu können. Dabei haben wir uns auf Kartoffeln, Mais, Bohnen und Zucchini konzentriert, um einen Teil unseres Verbrauchs innerhalb der acht Gemeinden abzudecken. Benachbarten Gemeinden, denen diese Art von Initiative fehlte, sollte kostenloses Saatgut geliefert werden, um auf die gleiche Art erstellte Aussaatpläne starten zu können, die ihnen helfen werden, ihren internen Bedarf zumindest teilweise zu decken. Die aus den Pflanzungen gewonnenen Produkte werden um 50 Prozent günstiger verkauft als in den Geschäften, damit sie für alle erschwinglich sind. Zehn Prozent der Gesamtproduktion werden an Gesundheitszentren gespendet, damit die Patienten besser ernährt werden können.
Die Mittel, die aus dem Verkauf der in der Kommune produzierten landwirtschaftlichen Produkte erwirtschaftet werden, verwenden wir zunächst einmal für den Erwerb von Werkzeugen, um die Aussaatprozesse wenigstens ein bisschen zu industrialisieren. Das entspricht 40 Prozent der Gewinne, 20 Prozent sind für den Kauf landwirtschaftlicher Betriebsmittel wie zum Beispiel Dünger bestimmt, da wir derzeit nicht in der Lage sind, diese zu produzieren. Aber wir starten gerade ein neues Projekt, das auf die Produktion von organischem Dünger und biologischen Schädlingsbekämpfungsmitteln abzielt. Damit wollen wir von Agrochemikalien unabhängig werden und nicht weiterhin von transnationalen Konzernen oder anderen Arten von Unternehmen abhängig sein, die die Kontinuität unseres Projekts gefährden könnten. Auf diese Weise hoffen wir auch die Produktion erheblich steigern zu könnten.
20 Prozent erhält ein anderes Projekt, das für die Selbstversorgung der Kommune mit Nahrungsmitteln von grundlegender Bedeutung ist. Es handelt sich um die Schaffung einer Geflügel- und einer Schweinezucht. Damit werden wir zum Proteinhaushalt unserer Gemeinden beitragen, was sehr wichtig ist, wenn man in Betracht zieht, dass der Preis für ein Kilogramm eines dieser Produkte das monatliche Einkommen eines durchschnittlichen Arbeiters in Venezuela übersteigt. Schließlich werden die verbleibenden 20 Prozent für Sozialprogramme in Gesundheitszentren und zur Sanierung öffentlicher Räume verwendet, was zur Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen in unserem Einzugsbereich beitragen wird.
Kurz gesagt, dies ist unsere Basisinitiative mit ihrem partizipativen und richtungsweisenden Charakter. Sie spiegelt unsere Bestimmung wider, selbstbestimmt zu leben und am Aufbau einer besseren Zukunft beteiligt zu sein. Unser Ziel ist, Wohlstand und Ressourcen für alle zu schaffen. Unsere Ausgangspunkte sind Basisorganisation und Gemeinschaftsarbeit, unser Ziel ist die Verwirklichung egalitärer Träume. Das haben wir uns gemeinsam mit unseren deutschen Kameraden vorgenommen haben, denen wir zum Abschluss nochmals danken wollen. »Chávez lebt. Kommune oder nichts!«
https://www.jungewelt.de/artikel/391950.venezuela-kommune-oder-nichts.html