Aufruhr in Guatemala
Bei Protesten gegen neoliberalen Haushaltsentwurf brennt das Parlamentsgebäude. Linke sprechen von Provokation
Von Volker Hermsdorf
In Guatemala haben Einsatzkräfte am Wochenende Proteste gegen geplante Kürzungen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich niedergeschlagen. »Die Polizei wandte exzessive Gewalt gegen Demonstranten an, die den Rücktritt von Präsident Alejandro Giammattei forderten«, berichtete der lateinamerikanische Nachrichtensender Telesur am Sonntag. Zahlreiche Aktivisten und Journalisten waren laut Agenturberichten durch Einsatzkräfte verletzt worden. Bei den bisher größten Demonstrationen gegen die neoliberale Politik des seit Januar amtierenden Staatschefs, sind am Sonnabend mehrere tausend Menschen auf die Straßen der Hauptstadt gegangen.
Am Rande der überwiegend friedlichen Proteste waren einige in das Parlamentsgebäude eingedrungen und hatten Teile der Einrichtung in Brand gesetzt. Giammattei erklärte, er respektiere »das Recht zu demonstrieren«, werde aber »nicht zulassen, dass öffentliches oder privates Eigentum« zerstört wird. »Wer sich an diesen kriminellen Taten beteiligt, den wird die volle Härte des Gesetzes treffen«, drohte der zur rechten »Vamos«-Partei gehörende Staatschef.
Die Organisatoren der Protestaktionen behaupteten gegenüber Telesur dagegen, »infiltrierte Gruppen« hätten das Parlament in Brand gesteckt, »um den Aufschrei des Volkes zu diskreditieren«. Auch der ehemalige Leiter der Internationalen Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala (CICIG), Iván Velásquez, hat Zweifel. »Es ist sehr merkwürdig, um nicht zu sagen verdächtig, dass einzelne Personen so leicht in ein Gebäude eindringen und es in Brand setzen konnten, das höchste Sicherheitsmaßnahmen hätte haben sollen«, zitierte die russische Agentur Sputnik Velásquez. Der guatemaltekische Diplomat Edmond Mulet fordert mittlerweile eine Untersuchung. »Wer befahl, das Kongressgebäude nicht zu bewachen? Wer öffnete die Türen? Wer profitiert von dem Vandalismus?« fragte der Leiter mehrerer UN-Friedensmissionen per Kurznachrichtendienst Twitter.
Unterdessen kündigten die Aktivisten eine Fortsetzung ihrer Proteste an. Sie richten sich vor allem gegen den am Mittwoch vom Parlament ohne öffentliche Debatte und im Eilverfahren durchgepeitschten Rekordhaushalt für das Jahr 2021 in Höhe von umgerechnet rund 10,8 Milliarden Euro.
Der größte Teil davon solle in private Bauvorhaben und die von Privatfirmen verwaltete Infrastruktur des Landes fließen, während die Budgets für Gesundheit, Bildung, Soziales und den Kampf gegen die Unterernährung gekürzt würden, kritisieren die Aktivisten. Sie wiesen darauf hin, dass sich auch die Abgeordneten des von »Vamos« dominierten Kongresses höhere Bezüge zubilligten, während über 59 Prozent der etwa 17 Millionen Einwohner des Landes in Armut leben, die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren unterernährt ist und Krankenhäuser inmitten der Coronapandemie nicht mehr die Versorgung gewährleisten könnten. Viele der von den verheerenden Tropenstürmen »Eta« und »Iota« betroffenen Familien hätten zudem keinerlei staatliche Hilfen erhalten.
Aufgrund der Proteste hatte der ebenfalls zur Regierungspartei gehörende Vizepräsident Guillermo Castillo den Staatschef am Freitag aufgefordert, mit ihm zusammen »für das Wohl des Landes« zurückzutreten. Die Anführerin der guatemaltekischen Indigenen und Friedensnobelpreisträgerin von 1992, Rigoberta Menchú, lobte Castillo daraufhin als »eine moralische und politische Referenz für das guatemaltekische Volk« und forderte die Regierung zum Dialog mit allen Sektoren des zentralamerikanischen Landes auf.
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