Nein zu Pinochets Erbe
Verfassungsreferendum in Chile
Von Frederic Schnatterer
Die Bilder vom Sonntag abend, als Hundertausende allein auf dem »Platz der Würde« im Zentrum von Santiago de Chile ihrer Freude freien Lauf ließen, sprechen für sich: Das eindeutige »Nein« zur aktuell gültigen Verfassung des Landes ist die Folge von mehr als einem Jahr Massenmobilisierung. Die spontanen Proteste gegen eine geplante Verteuerung der U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt am 18. Oktober 2019 wuchsen rasch zu einer Massenbewegung gegen die Regierungspolitik an und breiteten sich über das gesamte Land aus – der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Dimension des Aufstands verstanden auch die Herrschenden, die mit brutaler Polizeigewalt, Ausgangssperren und dem Einsatz des Militärs reagierten. Letztlich ohne Erfolg.
Die Wut der Menschen richtete sich von Anfang an gegen ein System, das von der Militärjunta unter Diktator Augusto Pinochet eingeführt worden war und das seinen Ausdruck in der noch heute gültigen Verfassung von 1980 findet. Nach dem Putsch gegen den Sozialisten Salvador Allende am 11. September 1973 wurde Chile zum Experimentierfeld neoliberaler Marktradikaler. Milton Friedman und seine »Chicago Boys« konnten ihre Ideen in die Tat umsetzen, ohne Gegenwehr der in Blut ertränkten Opposition befürchten zu müssen. Auch nach dem Abtritt Pinochets und der formalen Rückkehr zur Demokratie 1990 wurden nur kosmetische Änderungen an der Verfassung vorgenommen. Ihr neoliberaler Kern blieb unangetastet.
Das spürt die Bevölkerung des Landes tagtäglich. Auch wenn das »chilenische Modell« – insbesondere vor dem Ausbruch der Revolte im vergangenen Jahr – weithin als »Musterbeispiel« in einer sonst »unruhigen« Region gelobt wurde: Die Kosten für Wirtschaftswachstum und Stabilität zahlt die Mehrheit der Chilenen. Nur in wenigen Staaten ist der Reichtum so ungerecht verteilt wie in Chile, nirgendwo in Lateinamerika sind private Haushalte so hoch verschuldet. Das System der privatisierten Pensionsfondsverwalter generiert Kapital für wenige, während Rentner nicht genug zum Überleben haben. Veränderungen innerhalb des Systems sind aufgrund eines undemokratischen Wahlrechts praktisch unmöglich.
Dass sich nun eine so große Mehrheit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgesprochen hat, ist ein Erfolg mit nicht zu überschätzender Symbolkraft – gerade auch, weil Chile jahrelang als »Modell« des Neoliberalismus galt. Das klare »Ja« zu einem in seiner Gesamtheit vom Volk gewählten Verfassungskonvent zeigt zudem das tiefsitzende Misstrauen gegenüber den Parteien. Kein Wunder, haben doch auch die sozialdemokratisch geführten Regierungen nach 1990 verlässlich den Status quo verteidigt.
Am Sonntag riefen die Feiernden mit Bezug auf Pinochet: »Unser Erbe wird das Tilgen deines Erbes sein.« Ob am Ende eine radikal andere Verfassung steht, wird insbesondere davon abhängen, ob der Druck von der Straße während der kommenden Monate aufrechterhalten werden kann.
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