Gegen Armut und Unterdrückung
Evo Morales hat die Lage benachteiligter Bevölkerungsschichten in Bolivien erheblich verbessert. Anerkennung dafür gab es auch aus dem Westen
Von Volker Hermsdorf
Das Gebiet des heutigen Boliviens zählte zu jenen mit den größten Rohstoffvorkommen des früheren spanischen Kolonialreiches. Doch das Land war immer eines der ärmsten Lateinamerikas. Putschende Militärs und eine mit brutaler Gewalt herrschende Oligarchie, die sich mit US-Konzernen arrangierte, betrachteten die Ressourcen als Beute. Zur Jahrtausendwende lebten zwei Drittel der Bevölkerung in Armut, 40 Prozent vegetierten sogar in extremer Armut. Die Kindersterblichkeit lag mit 110 pro 1.000 Lebendgeburten über der von Guatemala und Haiti, und die durchschnittliche Lebenserwartung betrug gerade einmal 53 Jahre. 2006 war dann mit dem ehemaligen Kokabauern und Gewerkschafter Evo Morales ein Mann aus einer Volksgruppe in den »Palacio Quemado« genannten Präsidentenpalast von La Paz gewählt worden, deren Angehörige 50 Jahre zuvor nicht einmal hätten wählen dürfen. Der indigenen Bevölkerung wurden in dem Andenstaat erst 1952 die Bürgerrechte verliehen. »Kümmert Euch nicht um Politik, für Euch sind Schaufel und Hacke im Hochland gedacht«, dies sei laut Morales, was die weiße Oberschicht den Indigenen nahelege.
Im Juni 2019, gut 13 Jahre nachdem die von Morales gegründete »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) in die Regierung gewählt worden war, bestätigte die bundeseigene Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing (German Trade and Invest): »Mit einem Wirtschaftswachstum von über vier Prozent innerhalb der letzten zehn Jahre belegt Bolivien eine Spitzenposition in Südamerika.« Einen Grund für die positive Veränderung sieht das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderte »Länderinformationsportal« (LIPortal) im Aufbau eines »kommunitären und sozialistischen« Wirtschaftsmodells. »Die Regierung verfolgte seit 2006 eine staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik, die durch Verstaatlichung der Naturressourcen, staatliche Investition und Einnahmenumverteilung (…) sowie Preisregulierungen auf Lebensmittel, gekennzeichnet« war. »Der Staatsanteil an der Wirtschaft ist im Zeitraum 2006 bis 2014 stetig gewachsen, besonders mit der Verstaatlichung von YPFB, dem größten Energiekonzern des Landes, sowie anderen wichtigen Unternehmen wie der Telekom (Entel) und der Gründung der Fluggesellschaft Boa (Boliviana de Aviación). Auch Teile der Stromversorgung (ENDE) und der Wasserversorgung wurden verstaatlicht«, analysierte »LIPortal« das Erfolgsmodell.
Die Maßnahmen ermöglichten der Regierung, die Lage der bis dahin benachteiligten Bevölkerung zu verbessern. Die Zahl der von Armut Betroffenen konnte um 25 Prozent, die von extremer Armut Betroffenen um 23 Prozent verringert und die Arbeitslosenquote von rund neun auf drei Prozent gesenkt werden. Auch Menschen mit wenig Geld hatten Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Mit Hilfe der kubanischen Lehrmethode »Yo si puedo!« (Ja, ich kann es!) wurden in kurzer Zeit rund eine Million Menschen alphabetisiert. Die Analphabetenrate sank von 13,3 im Jahr 2006 auf 2,4 Prozent im Jahr 2018. Die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) hatte Bolivien bereits 2014 zu einem »Land frei von Analphabetismus« erklärt. Sogar die bürgerliche Neue Zürcher Zeitung bescheinigte am 4. Januar 2020 der acht Wochen zuvor gestürzten linken Regierung: »Die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung wurde in einem Maße reduziert wie in kaum einem anderen Land der Region.«
Nach dem Putsch übernahmen wieder Unternehmer, Millionäre und neoliberale Politiker die Macht. Sie stürzten das Land in die tiefste politische, wirtschaftliche und soziale Krise der vergangenen 40 Jahre, die durch den Ausbruch der Coronapandemie noch verschärft wird. Die Zentralbank von Bolivien erwartet für 2020 einen Einbruch bei der Wirtschaftsleistung um 6,2 Prozent, das Regime entließ Tausende Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung, das Gesundheitssystem brach zusammen, und als wichtigste Maßnahme beschloss die Regierung noch kurz vor den Wahlen, das Energieunternehmens ELFEC (Empresa de Luz y Fuerza Eléctrica Cochabamba) zu privatisieren. Expräsident Morales schlug am 26. September per Twitter Alarm, weil mehr als eine Million Menschen bereits erneut in Armut gestürzt seien.
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