Chile schreibt Geschichte
Überwältigende Mehrheit stimmt in Referendum für Ausarbeitung neuer Verfassung und gegen Erbe der Diktatur
Von Frederic Schnatterer
Die noch aus der Zeit der Diktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990) stammende Verfassung Chiles wird durch eine neue ersetzt. Das ergibt das vorläufige Ergebnis des am Sonntag (Ortszeit) durchgeführten Referendums nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der abgegebenen Stimmen. Nach Angaben der Wahlbehörde Servicio Electoral de Chile (Servel) sprachen sich dabei 78,27 Prozent der Wähler für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung aus. Das entspricht mehr als 5,8 Millionen Chileninnen und Chilenen.
Mit fast ebenso vielen Stimmen und 78,99 Prozent entschieden sich die Wähler dafür, dass der Text des neuen Grundgesetzes von einem »konventionellen Verfassungskonvent« erarbeitet werden soll. Dessen 155 Mitglieder, die je zur Hälfte aus Männern und Frauen bestehen sollen, werden nun im April des kommenden Jahres direkt gewählt. Damit sprach sich eine überwältigende Mehrheit gegen den sogenannten gemischten Verfassungskonvent aus. Ein solcher hätte zu 50 Prozent aus Vertretern politischer Parteien bestanden, die im Parlament sitzen. Die verfassunggebende Versammlung soll spätestens nach einem Jahr einen Entwurf vorlegen, über den die Chilenen dann erneut per Referendum abstimmen.
Das Referendum, das ganz im Zeichen des Infektionsschutzes stand, zeichnete sich durch eine hohe Wahlbeteiligung aus. Bilder von langen Schlangen vor den Wahllokalen machten im Internet die Runde. Nach Angaben von Servel gaben insgesamt mehr als 50 Prozent der 14,8 Millionen Wahlberechtigten im In- und Ausland ihre Stimme ab. Das entspricht der höchsten Beteiligung, seit in Chile 2012 die bis dahin geltende Wahlpflicht abgeschafft wurde. Die eigentlich bereits für April geplante Abstimmung war von der Regierung wegen des Beginns der Coronapandemie verschoben worden.
Bereits vor der Verkündung der ersten Ergebnisse versammelten sich in allen größeren Städten des Landes feiernde Menschen auf zentralen Plätzen. Im Zentrum der Hauptstadt Santiago kamen Hunderttausende zusammen, die mit Sprechchören, Musik und Feuerwerk ihrer Freude freien Lauf ließen, wie auf zahlreichen Videos in den »sozialen Medien« zu sehen ist. Die Plaza Italia, von der Protestbewegung in »Platz der Würde« umgetauft, hatte sich vor etwas mehr als einem Jahr zum Symbol des Aufstands entwickelt, unter dessen Druck der rechte Präsident Sebastián Piñera einem Verfassungsreferendum zustimmen musste.
Auch nahezu das gesamte politische Spektrum zeigte sich nach dem von vielen als »historisch« bezeichneten Triumph der Anhänger einer neuen Verfassung mit dem Abstimmungsverlauf zufrieden. So erklärte Staatschef Piñera am Sonntag abend bei einer Pressekonferenz im Präsidentenpalast La Moneda, das Referendum sei der »Beginn eines neuen Weges, den wir alle zusammen gehen müssen«.
Der Parlamentsabgeordnete Hugo Gutiérrez von der KP Chiles gratulierte den Wählerinnen und Wählern zum Ergebnis. Über den Kurznachrichtendienst Twitter schrieb er: »Das Volk Chiles hat beschlossen, sein Land zurückzuerobern und es den Habgierigen und Machthungrigen zu entreißen.« In der Kampagne »Apruebo Chile Digno« (Ich stimme für ein würdiges Chile) zusammengeschlossene Organisationen erinnerten derweil ebenfalls auf Twitter daran, dass »der Kampf weitergeht. Wir müssen uns weiter auf der Straße organisieren. Auf dass das Volk bestimmt, was die Delegierten des Verfassungskonvents entscheiden.«