Kräftemessen in Venezuela
Die für den 6. Dezember in Venezuela vorgesehenen Parlamentswahlen bringen die politischen Kräfteverhältnisse in dem südamerikanischen Land durcheinander. Während der von westlichen Regierungen hofierte Oppositionspolitiker Juan Guaidó – der sich immer noch „Übergangspräsident“ nennen lässt – zum Boykott der Wahlen aufruft und einfach die Amtszeit der 2015 gewählten Abgeordneten bis in alle Ewigkeit verlängern will, haben prominente Regierungsgegner wie der frühere Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski angekündigt, an den Wahlen teilnehmen zu wollen. „Die Opposition ist für Maduro zu vorhersehbar geworden“, kritisierte Capriles Anfang September in einer in den sozialen Netzwerken verbreiteten Videobotschaft. Wenn die Regierung die Tür einen Spalt öffne, müsse man die Hand hineinstecken, um später einen Fuß in den Raum setzen zu können. „Es gibt eine immer größere Spaltung zwischen der politischen Klasse und dem Volk auf der Straße. Die Menschen äußern sich nicht nur schlecht über das Regime, sondern auch über uns in der Opposition.“
Diese Einschätzung von Capriles, der als Kandidat der Regierungsgegner 2012 gegen Hugo Chávez und 2013 gegen Nicolás Maduro verloren hatte, wird durch aktuelle Umfrageergebnisse belegt. So ergab eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Datincorp, dass insgesamt 56 Prozent der Befragten mit der Amtsführung Maduros unzufrieden sind, aber sich sogar 62,5 Prozent gegen Guaidó aussprechen. Als verfassungsmäßigen Präsidenten des Landes erkennen 50,3 Prozent der Befragten Maduro an, nur noch 16,2 Prozent Guaidó. Im Februar 2019, als sich Guaidó gerade selbst zum „Staatschef“ proklamiert hatte, war er noch von 49,4 Prozent akzeptiert worden, während der Wert für Maduro bei 33,75 Prozent lag.
Die 2018 von Capriles gegründete Partei „Fuerza del Cambio“ (Kraft des Wandels) hat inzwischen begonnen, über das internetbasierte Nominierungssystem des Nationalen Wahlrats (CNE) Kandidaten für die verschiedenen Regionen einzutragen. Parallel dazu gibt es zwei weitere Blöcke von Oppositionsparteien. Unter dem Namen „Demokratische Alternative“ haben sich die eher dem gemäßigten Lager zuzurechnenden Parteien AD, Copei, Avanzada Progresista, El Cambio und Cambiemos zusammengeschlossen, unter dem Label „Einheit Venezuela“ kandidieren die Rechtskräfte Primero Justicia und Voluntad Popular. Allerdings stehen hinter diesen Namen nur die Flügel, denen vom Obersten Gerichtshof die Kontrolle über die Parteien zugesprochen wurde – die jeweils unterlegenen Fraktionen rufen zum Boykott auf.
Dieses Problem hat auch die „Revolutionäre Alternative des Volkes“ (APR), die sich um die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) versammelt hat. Ursprünglich hatten sich auch andere Linksparteien wie die PPT (Heimatland für alle) der Allianz angeschlossen, die von links Kritik an der Regierungspolitik übt. Der Oberste Gerichtshof setzte aber auch in diesen Fällen die bisherige Parteiführung ab und übertrug die Kontrolle über die Organisationen Gefolgsleuten des Regierungslagers. Nur in der PCV fand man offenbar niemanden, der sich für ein solches Manöver hergab. Deshalb wird auf dem Stimmzettel nur die Kommunistische Partei auftauchen – unterstützt diesmal aber von zahlreichen linken Bewegungen und Organisationen, deren bisherige Namen allerdings im Bündnis mit der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) ins Rennen um die Sitze in der Nationalversammlung gehen.
Neben solchen juristischen Tricks setzt die PSUV auf bekannte Namen, um die Kontrolle über das venezolanische Parlament zurückzugewinnen. Nicht weniger als acht Ministerinnen und Minister haben ihre Sitze im Kabinett Maduro aufgegeben, um sich dem Votum der Wähler zu stellen, unter ihnen der bisherige Informationsminister Jorge Rodríguez. Dieser hatte zum Wahlkampfauftakt die Begnadigung von 110 Oppositionellen verlesen dürfen. Einige von ihnen saßen bislang im Gefängnis, gegen andere waren Verfahren anhängig oder sie hatten sich ins Ausland abgesetzt. Dies sei ein „Beitrag zum Frieden“, begründete Rodríguez diesen Schritt. Allerdings profitieren von der Begnadigung nur rechte Regierungsgegner, von denen einige direkt in Putsch- und Mordversuche verwickelt waren. Im Netz wurde deshalb gefragt, warum mehrere linke Gefangene, zum Beispiel zwei ehemalige Arbeiter des Erdölkonzerns PDVSA, von der Amnestie ausgenommen wurden.