»Die Uhr tickt«
UN-Generaldebatte in New York: Trump hetzt, Xi will Zusammenarbeit, Díaz-Canel stellt Systemfrage
Von Jörg Kronauer
Hintergrund: Beijing und die UNO
Chinas Außenministerium hat den 75. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen zum Anlass genommen, ein ausführliches Positionspapier zur globalen Lage zu publizieren. Die Welt trete »in eine Periode der Turbulenz und des Wandels« ein, in der »gewisse Staaten und politische Kräfte« nach »Entkopplung« riefen und aus internationalen Organisationen und Vereinbarungen ausstiegen, heißt es darin. Dies stürze »die Welt in ernste Gefahr«. Beijing hingegen lehne »Unilateralismus, Hegemoniestreben und Machtpolitik« entschlossen ab und setze auf die unbedingte Wahrung des internationalen Rechts: »Alle Staaten« seien »gleich«; ihre »unabhängige Wahl des sozialen Systems und des Entwicklungspfades« müsse respektiert, jegliche auswärtige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten entschieden zurückgewiesen werden. Dabei gelte es, »die Architektur der Kooperation mit den Vereinten Nationen in ihrer Mitte zu konsolidieren«.
Die Zusammenarbeit in den Vereinten Nationen entspricht durchaus den materiellen Interessen der aufsteigenden, wirtschaftlich ungebrochen erstarkenden Volksrepublik. Im Rahmen der UNO ist es ihr gelungen, ihr neues ökonomisches und politisches Gewicht in wachsenden Einfluss umzusetzen. Sie ist mit rund zwölf Prozent zweitgrößter Beitragszahler nach den USA. In vier der insgesamt 15 UN-Sonderorganisationen – zählt man die Weltbankgruppe einzeln, sind es 17 – stellt sie die Leitung, die Vereinigten Staaten tun dies nur in zwei. Zudem hat Beijing seine Rolle bei den Einsätzen der »Blauhelme« systematisch gestärkt. Rund 2.500 Soldaten und Polizisten wurden bis 2019 entsandt. So stellt die Volksrepublik nun mehr Personal als die anderen ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder, alles in allem ist China zehntgrößter UN-Truppensteller überhaupt. Das trägt dazu bei, Chinas Position in der Weltpolitik weiter zu stärken. (jk)
An Warnungen hat es zu Beginn der diesjährigen UN-Generaldebatte in New York nicht gefehlt. »Wir bewegen uns in eine sehr gefährliche Richtung«, stellte UN-Generalsekretär António Guterres mit Blick auf den eskalierenden Machtkampf der Vereinigten Staaten gegen China fest, als er die Debatte am Montag eröffnete. »Unsere Welt kann sich keine Zukunft leisten, in der die beiden größten Volkswirtschaften die Erde spalten«, fuhr Guterres fort: Mit dem Aufreißen einer »technologischen und ökonomischen Kluft«, wie sie die Trump-Regierung mit dem Ziel einer »Entkopplung« von China anstrebt, wird unvermeidlich riskiert, dass sie »zu einer geostrategischen und militärischen Kluft« wird. Das gelte es, »um jeden Preis zu vermeiden«. Der UN-Generalsekretär wiederholte seinen Appell, nicht zuletzt wegen der Covid-19-Pandemie bis Jahresende »einen globalen Waffenstillstand« zu erzielen. Dies bezog er explizit auch auf den Kalten Krieg der Vereinigten Staaten gegen die Volksrepublik: »Die Uhr tickt«.
Politisierung der Pandemie
Hätte Guterres noch eines Beleges dafür bedurft, wie ernst die Lage ist – US-Präsident Donald Trump lieferte ihn mit seiner Rede vor der UN-Vollversammlung, die wie alle anderen vorab auf Video aufgezeichnet worden war und in New York abgespielt wurde. Die gewohnte physische Präsenz der Vertreter der 193 UN-Mitgliedstaaten lässt dieses Jahr die Pandemie nicht zu. Trump nutzte seine Rede, um den Kalten Krieg gegen China zu verschärfen. Einmal mehr behauptete er, die Volksrepublik habe »diese Seuche auf die Welt losgelassen«, insistierte auf der rassistischen Bezeichnung »China-Virus« und forderte: »Die Vereinten Nationen müssen China für seine Handlungen zur Rechenschaft ziehen«. Kaum vier Stunden nach der Übertragung der Rede legte er bei einem Wahlkampfauftritt in Pittsburgh in Pennsylvania, einem besonders heiß umkämpften Bundesstaat, nach. »Sie haben die Seuche herausgelassen«, ätzte er vor der johlenden Menge: »Es ist das China-Virus. Wisst ihr, die radikalen Linken, sie wollen es nicht sagen.« So führt man nicht nur Wahlkampf – so hetzt man eine Bevölkerung auf, bis sie kriegsbereit ist.
Antworten im Detail auf Trumps eskalierende Rede waren, da sämtliche Beiträge zuvor per Video hatten eingereicht werden müssen, nicht möglich. Die erste – inhaltliche – Gegenrede folgte jedoch bereits nach 20 Minuten mit der Ansprache des chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Xi verwahrte sich gegen jede Politisierung der Pandemie. Er plädierte dafür, den erforderlichen Neustart der Wirtschaft nicht allein auf nationaler Ebene zu forcieren, sondern ihn international zu koordinieren. Das multilaterale System müsse rings um seinen Kern, die Vereinten Nationen, bewahrt und jeglicher Unilateralismus zurückgewiesen werden. Vor allem aber sei jede »Blockbildung« mit dem Ziel, »andere draußen zu halten«, zu unterbinden. Der multilaterale Ansatz entspricht der allgemeinen Linie der chinesischen Außenpolitik (vgl. Spalte rechts), er trägt freilich auch der derzeitigen Lage der Volksrepublik Rechnung: Während Washington bei seinem Versuch, Chinas Aufstieg, den es ökonomisch nicht mehr stoppen kann, mit Gewalt zu beenden, sämtliche internationalen Fesseln abschüttelt (vgl. Text unten), sucht Beijing multilaterale Bindungen zu stärken, um der befürchteten Aggression entgegen zu wirken. Das schwang zumindest mit, als Xi ankündigte, die Volksrepublik werde Entwicklungsländer bevorzugt mit Covid-19-Impfstoffen versorgen und – damit entsprach er Forderungen der EU – Klimaneutralität schon vor dem Jahr 2060 erreichen.
Diktatur des Marktes
Auf rasche Deeskalation drangen auch andere, insbesondere Russlands Präsident Wladimir Putin. Er rief nicht zuletzt dazu auf, der globalen Abrüstung wieder den notwendigen Stellenwert einzuräumen, und erinnerte daran, dass der »New START«-Vertrag, das letzte noch bestehende bedeutende Abrüstungsabkommen zwischen Washington und Moskau, nächsten Februar ausläuft, wenn es nicht verlängert wird. Putin schlug darüber hinaus ein verbindliches Abkommen zum Verzicht auf die Stationierung von Angriffswaffen im Weltall vor.
Wirklich grundsätzlich wurde allerdings nur Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel, der die Systemfrage erwähnte. Er wies darauf hin, dass die derzeitige »multidimensionale Krise« den »großen Fehler der entmenschlichten Politik offenlegt, die in vollem Umfang von der Diktatur des Marktes aufgezwungen wird«. Heute werde man Zeuge »des Desasters, in das die Welt durch das irrationale und unhaltbare Produktions- und Konsumptionssystem des Kapitalismus geführt worden ist«. »Jahrzehnte einer ungerechten internationalen Ordnung und die Umsetzung eines skrupellosen und ungezügelten Neoliberalismus haben die Ungleichheit verstärkt und das Recht der Menschen auf Entwicklung geopfert.« Das bezog Díaz-Canel explizit nicht allein auf die aktuelle Covid-19-Pandemie, sondern auch auf die fortbestehende Unterdrückung ärmerer Staaten durch die westlichen Mächte.
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