»Viele Menschen reagieren mit Apathie«
Die brasilianische Linke bereitet sich auf die Kommunalwahlen im November vor. Ein Gespräch mit Juliano Medeiros
Interview: Jorge Lopes
Juliano Medeiros ist Vorsitzender der Partei Sozialismus und Freiheit (Partido Socialismo e Liberdade, PSOL)
Am Wochenende wurde nach offiziellen Zahlen in Brasilien die Marke von 100.000 Todesopfern durch die Covid-19-Pandemie überschritten. Wie geht die Bevölkerung damit um?
In Brasilien erleben wir eine echte Tragödie, die wir eigentlich nur mit der in den USA vergleichen können. Das ist sicherlich kein Zufall, denn die Regierungen in beiden Ländern ähneln sich im Umgang mit der Pandemie. Die Lage in Brasilien ist außerordentlich kritisch. Es gibt keine Perspektive zur Kontrolle der Pandemie in unserem Land. Aber zur gleichen Zeit erleben wir auch nach fünf Monaten so etwas wie Normalisierung im Alltag, viele Menschen reagieren nach Monaten der sozialen Isolierung mit Apathie auf die Situation. Die Folge ist, dass es derzeit kaum politische Proteste gegen Bolsonaro gibt und dessen Beliebtheit sogar wieder leicht zunimmt. Das hat auch damit zu tun, dass die Regierung eine Initiative der parlamentarischen Linken für ein Hilfsgeld aufgegriffen hat und dafür Zustimmung bekommt.
Auch wenn es keine allgemeine Bewegung gegen Bolsonaro gibt, so kommt es doch zu Protesten. Welche Rolle spielt Ihre Partei, die PSOL, dabei?
Ende Juni gab es drei große Straßenproteste in Brasilien. Die PSOL war die einzige linke Partei, die dazu aufgerufen und sich aktiv beteiligt hat. Die anderen linken und Mitte-links-Kräfte lehnten das aufgrund des Lockdowns ab. Die Entscheidung für die Proteste war richtig, denn es gab eine Unzufriedenheit, die nicht mehr nur in soziale Netzwerke und die Parlamentsarbeit passte. Die Welle der Proteste endete zwar, aber sie führte auch zur Demobilisierung der Bolsonaro-Anhänger, die nun ebenfalls nicht mehr demonstrieren. In dieser Phase konzentriert sich die PSOL auf die Arbeit in den Parlamenten und ist die aktivste Partei bei der Anklage der Verbrechen und der Inaktivität der Regierung Bolsonaro.
Im November soll es Kommunalwahlen in Brasilien geben. Wie sind die Kräfte der politischen Linken dafür aufgestellt?
Die linken Kräfte lassen sich in drei große Blöcke aufteilen. Zunächst der Mitte-links-Block, angeführt von Ciro Gomes. Dessen PDT konnte bei den vorigen Wahlen am meisten von enttäuschten Wählern der Arbeiterpartei, PT, profitieren. Neben der »sozialistischen« PSB und den Grünen zähle ich auch die kommunistische PCdoB zu diesem Block. Hier geht es um ein politisches Projekt des Dialogs mit dem moderaten bürgerlichen Lager. Zweitens den Block der Partei von Lula, der PT. Diese ist noch die hegemoniale Kraft auf der politischen Linken, aber es handelt sich um eine Hegemonie in der Krise. Die PT manövriert zwischen Anpassung an das politische Zentrum und Verfolgung durch dasselbe und hat Schwierigkeiten, eine kohärente Politik zu formulieren. Und drittens der Block der radikalen Linken. Die PSOL ist hier die stärkste Partei, neben kleineren wie der kommunistischen PCB. Zu diesem Block gehören soziale Organisationen wie die »Arbeitenden ohne Obdach«, MTST, sowie die feministische und antirassistische Bewegung. Zwischen diesen drei Blöcken gibt es eine Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im linken Lager. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht alle die Notwendigkeit des gemeinsamen Widerstandes gegen Bolsonaro erkennen und eine breite antifaschistische Front bilden.
Trotz verschiedener Anstrengungen ist es aber nicht gelungen, gemeinsame Wahllisten der Linken für die Wahlen aufzustellen. Werden die antifaschistischen Kräfte Bolsonaro bei den Kommunalwahlen Niederlagen zufügen können?
In einigen Städten konnten breite antifaschistische Wahllisten geschaffen werden. In Rio de Janeiro oder São Paulo allerdings nicht, das stimmt. Die PSOL tritt aber immer in Bündnissen mit anderen an. In den meisten Fällen übrigens mit der PT, wo es einen einflussreichen und aktiven linken Flügel gibt, und seltener mit Mitte-links. Im Vergleich zu 2018 ist die politische Linke in Brasilien heute auch besser aufgestellt. Damals wurde sie nur mit Begriffen wie »korrupt« und »abgewirtschaftet« in Verbindung gebracht. In der aktuellen Krise und nach fast zwei Jahren Erfahrung mit dem Ultraneoliberalismus von Bolsonaro kann die PSOL ihr Programm für ein öffentliches Investitionsprogramm und die Verteidigung des nationalen Gesundheitssystems SUS dagegenstellen – ein Programm für den Ausweg aus der Tragödie.