Profit vor Gesundheit
Brasilien: Gouverneure genehmigten trotz erster Coronafälle Karnevalsumzüge
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
In Brasilien steigt die Zahl der mit Covid-19 Gestorbenen: Bis Sonntag registrierte das Gesundheitsministerium insgesamt 101.049 Todesfälle und 3.035.422 bestätigte Infektionen mit dem Coronavirus. Demnach sterben alle 24 Stunden mehr als 500 Menschen im Land mit dem Virus. Dabei ist der Bundesstaat São Paulo mit 25.114 Todesfällen und 627.126 Infektionen am stärksten betroffen. Rio de Janeiro steht mit 14.080 Todesfällen und 178.850 Ansteckungen an zweiter Stelle, gefolgt von Ceará und Bahia. In Brasilien gibt es keine Region mehr, die nicht von der Pandemie betroffen ist. Selbst vor abgelegenen Indigenenreservaten hat das Virus nicht halt gemacht. Zahlen des Dachverbands der Indigenen Völker Brasiliens (Articulação dos Povos Indígenas do Brasil, APIB) zufolge kursiert es in 148 indigenen Gebieten, 652 Indigene sollen bereits gestorben sein. Weitere 23.453 seien infiziert.
Als eine der Hauptursachen für die landesweite Ausbreitung des Virus gilt inzwischen der Karneval von São Paulo und Rio de Janeiro, der Millionen von Menschen aus allen Teilen Brasiliens und Touristen aus aller Welt anzog. Laut einer Untersuchung der Oswaldo-Cruz-Stiftung (Fiocruz) hatte es bereits Ende Januar – vor dem Karneval, der am 21. Februar begann – den ersten, durch das Virus verursachten Todesfall gegeben. Einen Monat vor Bekanntgabe der ersten, durch das brasilianische Gesundheitsministerium bestätigten Coronainfektion am 26. Februar und fast zwei Monate vor dem ersten, am 17. März offiziell registrierten Todesfall.
Die Stiftung hält die Angaben des Gesundheitsministeriums für falsch und sagt, dass schon zu Beginn der Karnevalsumzüge das neue Virus zirkulierte und etwa zehn Menschen daran gestorben waren. Als das Gesundheitsministerium am Tag nach Ende des Karnevals, den ersten Fall einer Coronavirusübertragung bestätigte, habe es laut Fiocruz bereits 736 Infizierte und 209 Todesfälle gegeben.
Hätten die Gouverneure und Bürgermeister von São Paulo und Rio de Janeiro den Karneval abgesagt, hätte Brasilien die Pandemie besser in den Griff kriegen können. Der wirtschaftliche Verlust durch fehlende Touristen wog in den Rathäusern und Gouverneurspalästen von Rio und São Paulo offenbar schwerer. Rios Bürgermeister Marcelo Crivella verlängerte sogar das »größte Straßenfest der Welt« auf 50 Tage zur Erhöhung der Einnahmen. Ein katastrophales Krisenmanagement des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro trug sein übriges dazu bei.
Auch jetzt werden Maßnahmen nur zögerlich ergriffen: Weder Wilson Witzel, Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, noch Bürgermeister Crivella haben es geschafft, volle Busse und Warteschlangen in der Metropole zu verhindern. Selbst während des Ausnahmezustandes musste Rios Bevölkerung in vollen öffentlichen Bussen und Bahnen zur Arbeit fahren und sich damit einem hohen Ansteckungsrisiko aussetzen. Die privatisierten Bus-, Metro-, Bahn- und Fährlinien wurden von den Betreibern aus wirtschaftlichen Gründen drastisch eingeschränkt und nicht, wie in der Situation nötig, erweitert.
Das sogenannte Social Distancing gibt es in den öffentlichen Verkehrsmitteln Rios nicht. In São Paulo ist die Situation nicht anders. Der ÖPNV wurde deshalb zur Virenschleuder, die Covid-19 über alle Stadtviertel verbreitete und gerade auch bei den Busfahrern eine hohe Zahl an Opfern forderte und weiterhin fordert. Laut einer Untersuchung der Universität von Rio de Janeiro bestehe für Busfahrer und Schaffner der Stadt eine 71prozentige Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus anzustecken. Nur bei den Gesundheitsberufen liege das Infektionsrisiko höher.
https://www.jungewelt.de/artikel/384027.brasilien-profit-vor-gesundheit.html