Putschistin knickt ein
Boliviens De-facto-Regierungschefin stimmt Wahlen am 6. September zu. Kritik kommt von Ultrarechten
Von Frederic Schnatterer
Boliviens selbsternannte »Übergangspräsidentin« Jeanine Áñez ist unter dem Druck der sozialen Bewegungen eingeknickt. Am Sonntag abend (Ortszeit) verkündete die De-facto-Regierungschefin in einer im nationalen Fernsehen übertragenen Ansprache, ihre Unterschrift unter ein Gesetz zur Durchführung von Wahlen am 6. September setzen zu wollen. Erst am Dienstag der vergangenen Woche hatte Áñez noch angedeutet, den Abstimmungstermin ein weiteres Mal verschieben zu wollen.
Als Argument gegen die Durchführung der seit dem erzwungenen Rücktritt des linken Präsidenten Evo Morales am 10. November 2019 ausstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen hatte zuletzt die Entwicklung der Coronapandemie im Land herhalten müssen. Der ursprüngliche Termin am 3. Mai war auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Anfang Juni einigte sich das von Morales’ Partei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) dominierte Abgeordnetenhaus mit dem Obersten Wahlgericht (TSE) und anderen Parteien auf den 6. September.
Entgegen ihrer Beteuerung, sie habe »nie ein Interesse daran gehabt, meine Amtszeit zu verlängern« sondern es sei ihr stets um die Gesundheit der Bolivianer gegangen, sind andere Motive für Áñez’ ursprüngliche Sperrung gegen Neuwahlen wahrscheinlich. Als Kandidatin für das Präsidentenamt hat sie keine reelle Chance, in eine mögliche Stichwahl zu gelangen. Bei der jüngsten Meinungsumfrage Ende März lag sie mit 17 Prozent der Zustimmung nur auf dem dritten Platz. Wegen des Ausnahmezustands ist die Durchführung solcher Umfragen derzeit verboten. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass ihre Beliebtheit in den vergangenen Monaten gestiegen ist. Wegen der harten Ausgangssperre haben seit April massenweise Menschen ihren Erwerb verloren. Besonders betroffen sind die im informellen Sektor Arbeitenden. Zusätzlich wird die Überforderung des Gesundheitswesens mit der Verbreitung des Coronavirus immer deutlicher.
Am Sonntag erklärte Áñez, der Druck sei so groß geworden, dass sie dem Abstimmungstermin habe zustimmen müssen: »Ich habe ein leidendes Land und viele Politiker und Persönlichkeiten, die Wahlen so früh wie möglich fordern«. Soziale Bewegungen sowie die MAS hatten der De-facto-Regierung wiederholt vorgeworfen, die Wahlen hinauszuzögern. Noch am Sonntag erklärte Morales, der die Wahlkampagne seiner Partei aus dem argentinischen Exil koordiniert, über Twitter, die Putschregierung plane einen erneuten »Staatsstreich« – »gegen das Abgeordnetenhaus sowie soziale und gewerkschaftliche Organisationen, die sie im November nicht ausrotten konnte«.
Dem vorausgegangen war ein Treffen zwischen Vertretern der Putschregierung mit Angehörigen des Obersten Wahlgerichts. Wie die bolivianische Tageszeitung Los Tiempos am Sonntag berichtete, habe Áñez dem TSE dabei Prognosen zur Ausbreitung von SARS-CoV-2 ausgehändigt. Nach dem Treffen erklärte die De-facto-Gesundheitsministerin Heidy Roca: »Selbst mit Ausgangssperre werden wir im September bei einem Höchststand von 130.000 Fällen angelangt sein. In der ersten Monatshälfte werden täglich 2.000 neue Infektionen registriert werden.« Erst am Sonnabend hatte Bolivien erstmals mehr als 1.000 bestätigte Neuinfektionen innerhalb eines Tages gemeldet.
Angesichts dieser Zahlen machte Áñez am Sonntag direkt Morales und den in Meinungsumfragen an erster Stelle stehenden Präsidentschaftskandidaten der MAS, Luis Arce, für etwaige Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen verantwortlich. Doch auch der Kandidat der rechtskonservativen »Comunidad Ciudadana« müsse sich seiner »vollen Verantwortung für das Drängen auf Wahlen inmitten der Pandemie« stellen. Der frühere Präsident war bei der Abstimmung im Oktober 2019 bereits in der ersten Runde dem damaligen Amtsinhaber Morales unterlegen. Erwiesenermaßen unwahre Fälschungsvorwürfe der Rechten sowie internationaler Organisationen mündeten schließlich im Staatsstreich gegen den Linkspolitiker.
Áñez’ Ja zur Durchführung von Wahlen könnte nun zu einer tieferen Spaltung in der bolivianischen Rechten führen. Darauf deutet die Reaktion von Luis Camacho, Klerikalfaschist und einer der führenden Köpfe des Putsches, hin. In einem auf Twitter geteilten Schreiben hieß es am Sonntag, die Entscheidung der »Übergangspräsidentin« sei »kriminell«, »unverantwortlich« und »feige«. Zudem zeige sie, dass Áñez »ebenso niederträchtig« sei wie die MAS.
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