Reaktion und Revolution in Lateinamerika: die venezolanische zivil-militärische Union
Die Konsolidierung der venezolanischen zivil-militärischen Union ist der Schlüssel, um die von den Vereinigten Staaten seit Januar 2019 bis heute angeführten permanenten Putschversuche zu vereiteln und damit die Revolution gegen die Reaktion, nicht nur in Venezuela, sondern in der gesamten Region, zu verteidigen
Autor: Arnold August |
Als im Oktober letzten Jahres die Demonstrationswelle in Chile ausbrach, rief Präsident Sebastián Piñera an das Militär an und griff auf die Verfassungsklausel des „Ausnahmezustands“ zurück. Das Bild der Soldaten auf den Straßen und die Auferlegung der Ausgangssperre weckten sofort dunkle Erinnerungen. Seit Oktober 2019 wird der größte Teil der blutigen Repression von der nationalen Polizei durchgeführt, die – im Ausnahmezustand – in Großstädten wie Santiago und Valparaíso den Militärkommandanten unterstellt war.
Diese Situationen erschüttern nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Ländern wie Kanada, wo Pinochet auch Teil des kollektiven Gedächtnisses ist, das von einer fortschrittlichen Generation, die sich dem Horror widersetzte, zur nächsten weitergegeben wird. Diese Ereignisse lassen auch die Erinnerung vieler Kanadier und Quebecer chilenischer Herkunft wiederbeleben, die vor der Pinochet-Diktatur fliehen mussten.
Gleichzeitig zu denen in Chile mussten sich die Aufstände und Streiks in Kolumbien direkt oder indirekt den Streitkräften entgegenstellen.
In Brasilien war der wachsende Widerstand der Bevölkerung gegen Bolsonaros rechte Regierung allgegenwärtig, seit er 2018 nach der Inhaftierung seines Hauptgegners Lula da Silva die Wahlen gewann.
In Bolivien, einem anderen Szenario, förderten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, unterstützt vom Militär, einen Staatsstreich, der auf der Lüge beruhte, dass Evos Wahlen betrügerisch gewesen waren. Es ist bekannt, dass die wichtigsten am Staatsstreich beteiligten Armeeoffiziere an der School of the Americas in den Vereinigten Staaten ausgebildet wurden.
Die Erfahrungen Kolumbiens, Chiles, Brasiliens, Argentiniens und Boliviens stehen im Gegensatz zur venezolanischen Realität. Tatsächlich befinden sie sich an zwei entgegengesetzten Polen: Reaktion und Revolution. Es ist nicht so, dass die Vereinigten Staaten nicht versucht hätten, die venezolanischen Streitkräfte zu einer verräterischen Truppe zu machen. Sie haben sich bemüht, das venezolanische Militär zu einer Nachbildung ihrer Kollegen in den anderen Ländern zu machen, in denen die Reaktion dominiert, waren jedoch erfolglos.
Wie kann man das erklären? Vergleichen wir sie. In einem Online-Interview erklärte Claude Morin, ein pensionierter Professor des Instituts für Geschichte der Universität von Montreal, der wohl wichtigste Lateinamerikaforscher in Québec, dass die kolumbianische Armee aus Soldaten besteht, die im Kampf gegen Aufstände ausgebildet wurden, in der Beseitigung von Guerillas und bei der Durchführung von Massakern gegen Gemeinschaften, die dazu neigen könnten, diese zu unterstützen. Die Rekruten wurden darauf ausgerichtet, diese Aufgaben zu erfüllen, d.h. Bevölkerung und Zivilisten als Bedrohung zu sehen. Die Offiziere wurden mit Handbüchern der United States School of the Americas geschult.
Im Kampf gegen die Guerillas hat die Armee Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen aufgebaut und sie unter Vertrag genommen, damit sie mordet. Unter dem Mandat des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe erhielt die Armee Prämien für die Ermordung von Bauern, die nach ihrer Hinrichtung als Guerillakämpfer verkleidet wurden (der „Falsos Positivos“-Skandal). Dies „war eine bösartige Industrie des Todes“, erklärt Morin.
Bis 1973 galt die chilenische Armee als verfassungsgetreu. Aber nach der Ankunft der Unidad Popular führten der Umstand, dass sich die Vereinigten Staaten gegen den demokratischen Sozialismus von Salvador Allende stellten, und die Polarisierung der chilenischen Gesellschaft dazu, dass sich die Armee gegen die Regierung stellte. Nach dem Putsch führte Pinochet eine radikal andere Militärregierung ein. Die Putschisten säuberten die Armee von den Offizieren und Soldaten, die sich dem Putsch widersetzt hatten. Die nachfolgenden Akte des Staatsterrorismus hinterlieβen mehr als 3.000 Tote oder Vermisste.
Das chilenische Offizierskorps wurde immer aus den Eliten rekrutiert, während die Soldaten im Allgemeinen aus der Arbeiterklasse stammten. „Ich weiß nicht, inwieweit die Armee irgendjemandem bei seinem Aufstieg bezüglich des sozialen Status hätte helfen können“, sagt Professor Morin, „aber da Chile laut Soziologen eine konservative Gesellschaft ist, denke ich, dass die Streitkräfte in den Soldaten und den Rekruten der Arbeiterklasse eine Ideologie verbreiten, die den Eliten, der Oligarchie und dem Status quo günstig ist“.
In Bezug auf Argentinien vergleicht Morin die Ideologie der nationalen Sicherheit, die während des „schmutzigen Krieges“ in diesem Land (1976-1984) vorherrschte, mit der Kolumbiens. Hochrangige Offiziere wurden aus der Oligarchie rekrutiert. Antikommunismus war der gemeinsame Faktor, der alle Fraktionen zusammenhielt. „Die Unruhen im Argentinien der 1960er Jahren, die anti-peronistischen Behörden, eine Reihe von Militärregierungen zwischen 1954 (Sturz von Perón) und 1984 (Rückkehr der Zivilregierung mit Alfonsín) und der „schmutzige Krieg“ schufen einen Kontext der Unterdrückung aller wirksamen oder unternommenen Proteste gegen die etablierte Ordnung, die die Demonstranten als subversiv betrachtete“.
Als Leser der argentinischen Presse kommt Morin zu dem Schluss, dass die Beamten unter Macris Präsidentschaft erneut ihre Gesichter zeigen konnten und als dauerhafter Schutzschild gegen jeden Aufstand fungierten.
Während des Militärputsches in Brasilien hatte US-Botschafter Gordon die brasilianischen Offiziere aufstachelt und die Putschisten wurden durch die Anwesenheit US-amerikanischer Kriegsschiffe an der Küste beruhigt. „Sowohl die Vereinigten Staaten als auch die beteiligten Offiziere waren besorgt über die Verbindungen zu Kuba von Goulart, der sogar Che Guevara den Cruzeiro do Sul-Orden verliehen hatte. Erneut tritt der Antikommunismus in Erscheinung.”
In einem Artikel aus dem Jahr 2003 weist Marta Harnecker darauf hin, dass das venezolanische Militär sieben definierte Merkmale auszeichnet, wodurch es sich nicht nur von den oben beschriebenen unterschieden, sondern das Gegenteil darstellt. Es war ein natürlicher Nährboden für den Chavismo.
Erstens war es tief in den Ideen und Gedanken von Simón Bolívar über die nationale Souveränität und Volksbefreiung erzogen. Zweitens wurde das Militär zu Chávez‘ Zeiten an der venezolanischen Militärakademie und nicht an der United States School of the Americas ausgebildet. Drittens waren die historischen Bedingungen andere. Der Guerilla-Aufstand stellte kein großes Problem dar, und daher war auch die Indoktrination der „antikommunistischen“ Ideologie des Kalten Krieges nicht notwendig. Als Chávez‘ Generation 1970 in die Akademie eintrat, war die Guerilla-Aktivität von den Wurzeln an beseitigt. Viertens wurde das venezolanische Militär nicht von einer Elite-Militärkaste kontrolliert. Fünftens politisierte der als Caracazo bekannte Volksaufstand 1989 viele der Nachwuchsoffiziere und machte sie zu Sympathisanten einer Linken gegen die politische Elite. Sechstens hatte das Jahrzehnt vor dem Caracazo, das durch ein plötzliches Wachstum der sozioökonomischen Ungleichheiten gekennzeichnet war, bereits begonnen, Nachwuchsoffiziere zu radikalisieren. Und siebtens gab Chávez‘ Vorschlag zur Umstrukturierung der Streitkräfte, nachdem er 1998 gewählt worden war, ihnen einen neuen Zweck und einen Raum, um die in den vergangenen Jahrzehnten angesammelte Frustration zu kanalisieren.
Diese Eigenschaften bildeten eine solide Grundlage für die Konsolidierung der venezolanischen zivil-militärischen Union, um die von den Vereinigten Staaten seit Januar 2019 bis heute angeführten permanenten Putschversuche zu vereiteln und damit die Revolution gegen die Reaktion, nicht nur in Venezuela, sondern in der gesamten Region, zu verteidigen.