IPPNW PRESSEMITTEILUNG
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Datum: 27.04.2020
EINSEITIGE SANKTIONEN BEENDEN – HILFE STATT STRAFE IN ZEITEN VON CORONA
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Erklärung der deutschen IPPNW-Sektion
Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW schließt sich den Forderungen
von UN-Generalsekretär António Guterres1 nach einem weltweiten
Waffenstillstand sowie nach einer Aufhebung von Sanktionen an. Auch die
UN-Sonderbeauftragte für die negativen Folgen von Sanktionen Alena
Douhan2 plädierte Anfang April eindringlich für eine Aufhebung oder
zumindest Aussetzung „einseitiger Zwangsmaßnahmen“3. Sie rief dazu
auf, die Gesundheitssysteme sanktionierter Staaten in die Lage zu
versetzen, auf die Corona-Pandemie angemessen zu reagieren. Alle
Regierungen, die Sanktionen als Mittel der Außenpolitik nutzen, sollten
sofort alle Maßnahmen beenden, die den Handel und die Finanzierung von
medizinischen Maßnahmen und Materialien, von Nahrung und
lebensnotwendigen Gütern behindern.4
Die Covid-19 Pandemie hat sich inzwischen weltweit ausgebreitet. Wenn auch
die Zahlen der Infektionen und Toten in den Ländern unterschiedlich sind,
so steigen sie z.T. dramatisch an und bedrohen die Gesundheit der Menschen
ebenso wie ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Grundlagen.
Besonders gefährlich sind die Auswirkungen der Infektionen, aber auch der
politischen Maßnahmen zur Eindämmung wie Shutdown und Lockdown, für
diejenigen Länder, deren medizinischen und finanziellen Ressourcen
begrenzt sind. Ihre Bevölkerung leidet oft unter Kriegen, Armut, den
Folgen des Klimawandels und der Ausbeutung durch ein zutiefst unfaires
Wirtschaftssystem. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass medizinische
Fachkräfte und Gesundheitsarbeiter*innen in großen Zahlen die
betroffenen Länder verlassen haben. Wenn einseitige Sanktionen
hinzukommen, steigern sich spätestens durch eine Pandemie und die
radikalen Eindämmungsmaßnahmen die Leiden zu einer humanitären
Katastrophe. Davon sind laut Alena Douhan besonders vulnerable Personen in
den ärmsten Sektoren der Gesellschaft betroffen: Frauen, Ältere,
Jugendliche und Kinder.
Derzeit werden Länder wie Iran, Syrien, Venezuela und Kuba, aber auch
Russland und China mit Sanktionen belastet. Allein die EU betreibt
Sanktionsmaßnahmen gegen 33 Staaten und Entitäten. Die Sanktionen
treffen direkt und indirekt auch lebensnotwendige Güter wie Medikamente,
medizinische Geräte und Hilfsmittel und bedrohen damit die Gesundheit und
das Leben von Millionen Menschen. Durch „sekundäre
Sanktionsdrohungen“ gegen Drittstaatsangehörige, die mit dem
sanktionierten Staat in Geschäftsbeziehung stehen, werden weitere
Versorgungsmöglichkeiten behindert. Zudem führt die Rechtsunsicherheit
zu einer sogenannten „Over-Compliance“ von Finanzinstituten und Firmen
aufgrund der befürchteten Folgen. Das verschärft die negativen Folgen
für den sanktionierten Staat weiter.
Auch angesichts der Corona-Pandemie scheinen die USA und die Staaten der
EU, die mit diesen einseitigen Sanktionen versuchen, ihre
außenpolitischen Ziele zu verfolgen, vor den absehbaren Folgen für die
Menschenrechte auf Gesundheit und Leben nicht zurückzuschrecken. Es gibt
zwar einzelne Hilfsangebote. Jedoch ist die derzeitige faktische Blockade
von lebenswichtigen Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln während
der Pandemie nicht nur eine massive Gefährdung der betroffenen
Bevölkerungen, sondern auch eine Gefährdung der gesamten Menschheit, da
die Ausbreitung des Virus nicht an Ländergrenzen Halt macht. Zudem
behindern die sanktionierenden Staaten die Möglichkeiten und Chancen
eines wissenschaftlichen Austauschs und eines abgestimmten Vorgehens gegen
die Pandemie, die nach ihren eigenen Worten nur mit vereinten
gesellschaftlichen Kräften besiegt werden kann.
So setzen die USA ihre Sanktionen gegen Iran unvermindert fort und haben
sie nach Ausbruch der Pandemie sogar noch verschärft. Sie missachten
selbst eine Anordnung des Internationalen Gerichtshofs vom Oktober 2018,
die die USA ausdrücklich verpflichtete, die Sanktionen gegen die Ausfuhr
von Medikamenten, medizinischen Geräten, Lebensmitteln und
Agrarerzeugnissen aufzuheben. Die Staaten der EU haben es bisher nicht
geschafft, die Folgen der US-Sanktionspolitik abzumildern. Über die von
Deutschland, Frankreich und Großbritannien gegründete Gesellschaft
Instex zur Aufrechterhaltung des Handels mit dem Iran wurde im März 2020
ein allererstes Geschäft abgewickelt.
Die Sanktionen gegen die Regierung des kriegszerstörten Syriens, die
unter anderem die USA und die EU verhängt haben, erschweren nicht nur den
Wiederaufbau, sondern aktuell auch die Eindämmung der Pandemie. Laut
einer aktuellen Publikation der Stiftung „Wissenschaft und Politik“
tragen sie dazu bei, dass Geldüberweisungen aus dem Ausland und der
Import von Nahrungs- und Lebensmitteln erschwert werden, Produktionskosten
sich erhöhen und die Herstellung medizinischer Güter negativ beeinflusst
wird. Die Aufarbeitung von Verbrechen aller Konfliktbeteiligten ist eine
legitime Forderung, kann aber in der derzeitigen Situation keine
Begründung für die Verweigerung und Behinderung von Hilfsmaßnahmen
sein. Es ist die Kooperation mit allen Beteiligten erforderlich.
Ein weiteres Beispiel für Beeinträchtigung von Gesundheitsinstitutionen
ist die jahrelange Blockade des Gaza-Streifens durch Israel, die von den
USA und Ägypten unterstützt wird und der die EU nicht entschlossen
entgegentritt. Die desolate Situation der Gesundheitsversorgung und das
enge Zusammenleben können bei einem Corona-Ausbruch zu einer
hochgefährlichen Lage im Gazastreifen führen. Daher warnen Expert*innen
wie die Sprecherin des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) Tamara
Alrifai oder die Völker- und Menschenrechtsanwältin Shannon Maree
Torrens vor einer Katastrophe. Bei inzwischen festgestellten Covid-19
Fällen besteht trotz der Bemühungen der Verwaltung des Gazastreifens und
der WHO Grund zu großer Besorgnis.
Auch die Sanktionen gegen Russland und China, die ungleich bessere
Voraussetzungen für die Bekämpfung der Pandemie haben, stehen der
notwendigen internationalen Solidarität und Zusammenarbeit im Kampf
gegen die Pandemie entgegen.
Die IPPNW, die sich dem Recht auf Gesundheit verpflichtet sieht, fordert
die Bundesregierung auf, alles in ihrer Möglichkeit Stehende zu
unternehmen, um die einseitigen Sanktionen aufzuheben. Dabei nimmt die
IPPNW Waffenembargos und die Verweigerung militärischer Zusammenarbeit
ausdrücklich aus. Der Einwand, dass viele der jetzt in der Pandemie
hervorgetretenen Probleme von den Staaten selbst verschuldet sind, ist
kein Argument gegen die Aufhebung der Sanktionen und keine Entschuldigung
für Untätigkeit.
1 Guterres am 23.3.20 : „I also appeal for the waving of sanctions that
can undermine countries’ capacity to respond to the pandemic.“
https://unric.org/de/guterres-aufruf-zu-einem-globalen-waffenstillstand/
(Link:
https://unric.org/de/guterres-aufruf-zu-einem-globalen-waffenstillstand/ )
2 Alena Douhan ist die Nachfolgerin des im Februar verstorbenen Idriss
Jazairy, der im Mai letzten Jahres in Berlin auf Einladung der deutschen
IPPNW eindrücklich über die Folgen von Sanktionen für die Menschen in
Syrien berichtet hatte.
3 Einseitige Zwangsmaßnahmen werden nicht vom UN-Sicherheitsrat, sondern
von einzelnen Staaten bzw. Staatenbündnissen eingesetzt. Weite Teile der
Weltbevölkerung befinden sich in der ein oder anderen Weise unter den
Auswirkungen derartiger, teilweise jahrzehntelangen Zwangsmaßnahmen.
4 UN rights expert urges Governments to save lives by lifting all economic
sanctions amid COVID-19 pandemic, 3. April 2020,
https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25769&LangID=E
(Link:
https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25769&LangID=E
)
Kontakt:
Angelika Wilmen, Pressesprecherin IPPNW, Tel. 030 69807415, E-Mail: