Für die Freiheit
Zum Tod des puertoricanischen Unabhängigkeitskämpfers Rafael Cancel Miranda
Von Jürgen Heiser
»Puerto Rico ist die Achillesverse der USA«, so zitierte der puertoricanische Unabhängigkeitskämpfer Rafael Cancel Miranda lachend William H. Webster, einen seiner ärgsten Gegner, in einem Interview, das er jW vor Jahren gab. Webster war zwischen 1978 und 1991 zuerst Chef der US-Bundespolizei FBI und dann des Geheimdienstes CIA. Aus diesen Kreisen wurde gegen den Independentista Miranda mehrfach die unverholene Drohung ausgesprochen, er sei »der erste auf einer Todesliste«. Trotz dieser und anderer Morddrohungen lebte Don Rafael, wie ihn Freunde und Gefährten nannten, noch viele Jahre. Leider verschlechterte sich sein Gesundheitszustand aufgrund seines fortgeschrittenen Alters rapide. Am vergangenen Montag ist Don Rafael im Alter von 89 Jahren verstorben. Wie seine Witwe, María de los Ángeles Vázquez, und sein jüngster Sohn, Rafael Cancel Vázquez, mitteilten, starb er am Abend des 2. März »bei klarem Verstand und in Frieden« in seinem Haus in Río Piedras im Kreis seiner engsten Angehörigen und Kampfgefährten.
Don Rafael wurde von vielen Menschen geschätzt, weil sich in ihm die selbstverständliche Militanz im Denken und Handeln eines aufrechten Menschen, große Sensibilität gegenüber jedem Unrecht und ein lebensfroher Humor auf erfrischende Weise vereinigten. Von Kindesbeinen an war er beeinflusst von dem Widerstandsgeist, der die Seele der puertoricanischen Unabhängigkeitsbewegung ausmachte, die sich zunächst der Kolonialmacht der spanischen Krone und seit 1898 jener der neuen Herren in Washington widersetzte. Und Don Rafael gab seiner Bewegung die Kraft zurück, die in ihm wachgerufen worden war. »Er lebte nach der Maxime: ›Man erreicht sein Ziel schneller im aufrechten Gang als auf Knien‹«, wie es im Nachruf seiner Familie heißt.
Don Rafael wurde am 18. Juli 1930 in Mayagüez an der Westküste Puerto Ricos geboren und wuchs in einer Atmosphäre des Widerstands gegen die Fremdherrschaft auf. Seine Mutter, Rosa Miranda Pérez, entstammte einer Fischerfamilie. Sein Vater, Rafael Cancel Rodríguez, betrieb einen kleinen Möbelladen und war enger Mitarbeiter von Pedro Albizu Campos, dem Vorsitzenden der Nationalistischen Partei, die sich für die Unabhängigkeit des Landes einsetzte.
Schon früh erkannte der junge Rafael in dem von der US-Regierung auferlegten Kolonialregime das Haupthindernis für die Entwicklung seines Landes. Unterstützt von seinen Eltern trat er mit fünfzehn Jahren als »Kadett der Republik« in die Nationalistische Partei ein. Zusammenstöße mit dem Repressionsapparat waren unvermeidlich. Zwei Jahre saß er in Haft, weil er sich während des Koreakriegs der Einberufung zur US-Armee widersetzt hatte.
Nach Jahren des vergeblichen zivilen Protests und der repressiven Unterdrückung der Nationalistischen Partei, die auch unter den vielen in die USA ausgewanderten Puertorriceños viele Anhänger hatte, schritten vier junge Independentistas am 1. März 1954 zur Tat. Zusammen mit Lolita Lebrón, Irvin Flores Rodríguez und Andrés Figueroa Cordero drang Cancel Miranda bewaffnet in das Kapitol in Washington D. C. ein und unterbrach eine Sitzung des US-Repräsentantenhauses mit Warnschüssen. »Es lebe das freie Puerto Rico!«, riefen sie und entfalteten die verbotene Fahne Puerto Ricos. Ihre Protest richtete sich gegen die Propaganda, das Land gehöre als »frei assoziierter Staat« zu den USA und sei »ein geeignetes Objekt für sichere Investitionen«. Mit einem Schlag widerlegte die Aktion vor der Weltöffentlichkeit die Behauptung Washingtons, die Unabhängigkeitsbewegung sei »kein Problem mehr«.
Die vier Militanten sollten bis an ihr Lebensende in US-Bundesgefängnissen verschwinden, kamen aber durch den Druck einer internationalen Kampagne und einer Solidaritätsresolution der Vereinten Nationen nach 25 Jahren frei. 1979 ordnete der damalige US-Präsident James »Jimmy« Carter ihre bedingungslose Freilassung an. Am 12. September 1979 kehrten drei der vier »Nacionalistas« unter dem Jubel Tausender Unterstützer als freie Menschen nach Puerto Rico zurück. Figueroa Cordero erlebte diesen gemeinsamen Triumph nicht mehr. Er war wegen einer schweren Erkrankung zwei Jahre zuvor entlassen worden und im März 1979 gestorben.
Don Rafael setzte sich weiter unermüdlich für die Unabhängigkeit Puerto Ricos auf sozialistischer Basis ein. Er beteiligte sich aktiv an den Freiheitskampagnen anderer politischer Gefangener und war bis in die jüngste Zeit solidarisch mit Kuba und Venezuela und den progressiven Bewegungen Lateinamerikas und der Karibik. Die Verbundenheit mit dem gerechten Kampf des palästinensischen Volkes war für ihn selbstverständlich. Zeitlebens förderte er die Einheit aller Sektoren der Unabhängigkeitsbewegung und ging mit gutem Beispiel voran. Dazu trug er auch als Autor von Zeitungsartikeln, Aufsätzen in Magazinen und neun Büchern bei.
Die sich aus Frauenbewegung, Gewerkschaften und Parteien zusammensetzende Basisbewegung für die Unabhängigkeit stellt heute stärker denn je die Frage nach der Souveränität des völlig abhängigen »Außengebiets« der USA. Ziel bleibt die Schaffung selbständiger politischer Strukturen und einer sich selbst tragenden Wirtschaft, die weder von externen Investitionen noch vom Diktat Washingtons abhängig ist.
Auf Wunsch Don Rafaels sollen bei den in Kürze in San Juan, Mayagüez und den größeren puertoricanischen Gemeinden in den USA stattfindenden Trauerfeierlichkeiten die Fahnen nicht auf Halbmast gesenkt werden. Vielmehr sollten sie für die Freiheit Puerto Ricos »stets so hoch wie möglich und immer frei wehen«.
https://www.jungewelt.de/artikel/374085.nachruf-f%C3%BCr-die-freiheit.html