Eine Presse, die nicht kritisch nachfragt, ist keine Presse
UZ: Yoerky, du kommst aus einer einfachen Familie aus dem Escambray-Gebirge. Schon als Kind hast du Gedichte geschrieben, trugst sie auf Massenkundgebungen vor, wurdest mit 19 Jahren Parlamentsabgeordneter und bist heute mit 36 Jahren Chefredakteur der zweitgrößten kubanischen Tageszeitung und Mitglied des Staatsrates. Bist du so etwas wie ein Beweis für die Durchlässigkeit der kubanischen Gesellschaft?
Yoerky Sánchez: Vielleicht bin ich ein Beispiel dafür, dass die Kubanische Revolution allen Kubanern, auch denen, die in einfachen Verhältnissen leben, eine kostenlose Bildung garantiert. Natürlich leben wir nicht in einer perfekten Gesellschaft, und es mag den einen oder anderen geben, der einen Traum hat und ihn nicht komplett verwirklichen kann. Aber in Kuba gibt unser politisches System jedem Einzelnen die Möglichkeit, sich zu entwickeln. Das ist nicht nur ein Satz, der auf einem Stück Papier geschrieben steht, sondern in der Realität nachprüfbar.
UZ: Wenn man Kubaner nach dir fragt, sagen sie für gewöhnlich: Ich erinnere mich noch an Yoerky, wie er als kleiner Junge bei den Demonstrationen seine Reime vortrug. Ärgert dich das?
Yoerky Sánchez: Nein, überhaupt nicht. Ich schreibe fast jeden Tag ein neues Gedicht. Ich sehe den Vers als ein Behältnis an, in dem du über jedes denkbare Thema sprechen kannst. Die ersten Dichter waren zugleich auch Journalisten und die ersten Journalisten waren zugleich auch Dichter. Sie wanderten von Ortschaft zu Ortschaft und gaben in lyrischer Form mit Instrumentenbegleitung Neuigkeiten in Versform zum Besten.
Nicht jeder Vers ist gleich Poesie. Und es ist schwierig, Poesie in Versform und zugleich Journalismus zu machen. Journalismus hat etwas mit der Realität zu tun – Literatur mit Fiktion und erfundenen Figuren. Aber dennoch sind beide immer enger miteinander verflochten. Auch Journalismus kann in Versform verfasst sein.
UZ: Du hast als erster Abgeordneter in der kubanischen Nationalversammlung einen Beitrag in Reimform gehalten …
Yoerky Sánchez: Damals, im Jahr 2010, hatte Fidel angesichts des drohenden Atomkriegs in der Region eine Sondersitzung der Nationalversammlung einberufen. Im Laufe der Debatte fragte Fidel mich: „Yoerky, willst du dich nicht beteiligen?“ und ich antwortete: „Schon, aber ich arbeite noch an den Reimen.“ Das war in dem Moment gelogen, denn ich hatte keinen Beitrag im Sinn, aber ich konnte nun auch nicht mehr zurück. Zum Schluss der Debatte meldete ich mich und sagte: „Comandante, ich hatte Ihnen versprochen, in Versform zu antworten, und das würde ich jetzt gerne erfüllen.“ Ich sagte dann eine Décima über den drohenden Krieg zwischen den USA und dem Iran und die Rolle Obamas darin auf. Das war das erste und einzige Mal, dass in unserer Nationalversammlung gereimt wurde.
UZ: Du bist mittlerweile Chef der Tageszeitung der Jugendorganisation „Juventud Rebelde“. Welche Rolle spielt diese Zeitung in der kubanischen Presselandschaft?
Yoerky Sánchez: In Kuba gibt es zwei landesweit erscheinende Tageszeitungen, „Granma“ und „Juventud Rebelde“. Manche Leute sagen, dass die „Granma“ die Meldungen bringt und „Juventud Rebelde“ sie erklärt. Diese Meinung teile ich natürlich nicht (lacht).
Die Juventud Rebelde besetzt in der kubanischen Presselandschaft einen Platz, den sie sich – ähnlich wie ihrerseits die „Granma“ – in 55 Jahren erarbeitet hat. In unserem Fall bedienen wir mit unserem Journalismus in erster Linie die Interessen der Jugend; nicht nur des Kommunistischen Jugendverbandes, sondern der gesamten kubanischen Jugend. Da wir uns als eine Zeitung für junge Menschen verstehen, bemühen wir uns, auf der Titelseite auch vor allem junge Menschen zu zeigen und die Nachrichten unserem Zielpublikum entsprechend aufzubereiten.
Natürlich findet heutzutage nicht mehr alles nur auf dem Papier statt. Die Nachfrage unserer Online-Angebote nimmt ständig zu. Im letzten Jahr hatten wir 6 Millionen Zugriffe auf unsere Webseite, die Hälfte davon über Smartphones. Kuba befindet sich inmitten eines Prozesses der Digitalisierung. Mittlerweile sind mehr als 6 Millionen Handy-Linien freigeschaltet, viele von ihnen mit Zugang zum Internet. Der Zugriff auf unsere Online-Bereiche ist heute wesentlich vereinfacht, 80 Prozent der Zugriffe auf unsere Seite erfolgen aus Kuba, in der Mehrzahl durch Smartphones in den Händen junger Menschen.
UZ: Die „Juventud Rebelde“ ist also mehr als nur ein Printorgan?
Yoerky Sánchez: Wir sprechen von einer Multi-Plattform. Wir haben eine eigene Online-Redaktion, eine eigene Internetzeitschrift für Betriebe mit dem Namen „Opciones“, wir haben einen Raum für Karikaturen, eigene Präsenzen in den Sozialen Netzwerken, ein Internetradio namens jr.tv mit Ablegern auf Facebook, Twitter, Telegram und Instagram, jeder unserer Journalisten verfügt über einen Internetzugang. Mit anderen Worten: Unsere Zeitung befindet sich in einem Entwicklungsprozess, in dem noch viel zu tun bleibt. Aber wir sind auf dem richtigen Weg. Unsere Printausgabe entwickelt sich ebenfalls rasant weiter und wird demnächst in Farbe erscheinen. Wir geben also die Druckausgabe nicht auf, sondern machen uns Gedanken, wie wir unsere Inhalte besser vermitteln können. Wir müssen uns von dem Gedanken lösen, dass wir in der Zeitung genau das bringen, was Tags zuvor in der Online-Ausgabe erschienen ist.
UZ: Besteht die Strategie also darin, über die Webpräsenz die Aufmerksamkeit der Jugend zu erreichen?
Yoerky Sánchez: Ja, und dabei gleichzeitig die Qualität der Zeitung zu erhöhen. Wir wollen unsere jungen Leser mit interessanten Infografiken erreichen und sie damit an die Printausgabe heranführen. Im Netz herrscht die Gewohnheit vor, Artikel nur anzulesen und dann weiterzuklicken. Eine Zeitung kannst du auch mal zur Seite legen, um sie später weiterzulesen.
UZ: In Deutschland verlieren die meisten Printmedien an Leserschaft. Hat die „Juventud Rebelde“ heute dieselbe Auflage wie vor zehn Jahren?
Yoerky Sánchez: Ja, wir geben 200.000 Exemplare heraus, wie eh und je. Die Zeitungen sind in Kuba natürlich subventioniert. Eine Tageszeitung kostet nur 20 Centavos. Sie gehört damit zu den günstigsten Produkten, die man in Kuba erwerben kann. Ich glaube, nur die Fähre zwischen der Altstadt von Havanna und dem Stadtteil Regla ist noch günstiger (lacht). Unser Problem ist die verschärfte US-Blockade und der durch sie provozierte Papiermangel. In diesem Jahr mussten wir deshalb die Samstagsausgabe der „Juventud Rebelde“ streichen.
UZ: Wie ist die Beziehung zwischen „Juventud Rebelde“ und dem Kommunistischen Jugendverband UJC?
Yoerky Sánchez: Wir sind weder das Mitteilungsblatt noch das Zentralorgan der UJC. Wir vertreten nicht nur die Linie der UJC, sondern die aller Jugendorganisationen im Land. Mit ihnen diskutieren wir unsere strategische Ausrichtung. Die alltägliche Umsetzung nehmen wir als Redaktion allerdings eigenständig vor. In diesen Prozess greift die UJC nicht ein.
UZ: Wie hat sich der Journalismus in Kuba in den letzten Jahren verändert? Raúl Castro hat sich in seinen Reden mitunter heftig darüber beschwert, dass die Journalisten immer noch ihren alten Routinen nachhängen und den Entscheidungsträgern nach dem Mund schreiben würden. Ist mittlerweile ein Wandel zu spüren?
Yoerky Sánchez: Eine Presse, die nicht kritisch nachfragt, ist keine Presse. Im Journalismus ist das kritische Herangehen angelegt. Möglicherweise ist es wahr, dass einige Journalisten in Kuba zwischenzeitlich den bequemsten Weg gegangen sind. Aber es hat immer eine entwickelte Kritik in der kubanischen Presse gegeben, wenn auch vielleicht nicht genug. Wir haben in der „Juventud Rebelde“ beispielsweise seit über zwanzig Jahren eine tägliche Sektion, in der gesellschaftspolitische Themen journalistisch aufbereitet werden. Die Quelle dafür sind kritische Stimmen aus der Bevölkerung, die uns erreichen.
Die Kritik an der fehlenden Kritik der Presse in Kuba hat auch etwas mit der Mentalität der Kubaner zu tun. Niemandem gefällt es, kritisiert zu werden, und den Kubanern noch weniger. Der kubanische Intellektuelle Juan Marinello hat einmal gesagt, dass die kubanischen Funktionäre Kritik begeistert aufnehmen – immer vorausgesetzt, sie richtet sich nicht gegen sie selbst. So sind wir Kubaner. Aber ich glaube, in der Presse, in Radio und Fernsehen in Kuba kann man die ersten Ansätze zu einer entwickelteren Debattenkultur deutlich erkennen.
UZ: Im Zuge der Kampagnen gegen Kuba wurde immer wieder der Vorwurf geäußert, die Regierung würde den Internetzugang bewusst beschneiden, um zu verhindern, dass die Kubaner die „freie Presse“ lesen würden. Heute gibt es in Kuba einen praktisch unbegrenzten Internetzugang. Inwiefern stellt diese Konkurrenz eine Herausforderung dar?
Yoerky Sánchez: Wir waren in der ersten Zeit des Internets in Kuba gezwungen, die knappen Ressourcen auf die Institutionen zu konzentrieren, welche das Internet am dringendsten brauchten. Das hatte mehr mit der US-Blockade zu tun als mit der Angst davor, dass die Leute Informationen von „draußen“ lesen könnten.
Heute sind wir, was die Anbindung ans Internet angeht, ganz weit vorne. Im letzten Jahr veröffentlichte die BBC eine Umfrage, wonach Kuba nach Uruguay das zweitschnellste Internet in ganz Lateinamerika habe. Im vorletzten Jahr verzeichneten die Sozialen Netzwerke in Kuba ein Wachstum von 300 Prozent. Die große Herausforderung besteht darin, die jungen Menschen (und auch alle anderen) auf diese Welt vorzubereiten, ihnen beizubringen, nicht gleich der ersten Nachricht, die ihnen unterkommt, auch zu glauben. Wenn ich auf die Nachricht stoße, dass in der New-Yorker U-Bahn Haie gesichtet wurden, sollte ich sie besser nicht weiterverbreiten. Unsere Leute wissen, dass die sozialen Netzwerke mit Psychologie arbeiten, mit Gefühlen, Emotionen, mit Irrationalität, und deshalb einer kritischen Rezeption bedürfen. Auch in dieser Hinsicht verfügt das kubanische Volk über einen hohen Bildungsstand.
UZ: Die bürgerlichen Medien behaupten hierzulande, dass Kuba eine Parteidiktatur sei. Du bist ein Mitglied des Staatsrates und musst es von daher wissen: Wie steht es um die Demokratie in Kuba?
Yoerky Sánchez: In Kuba herrscht das Volk. So sagt es unsere Verfassung. Man darf das Konzept „Demokratie“ nicht mit „Wahlen“ gleichsetzen. Es gibt Länder, in denen gewählt wird und in denen trotzdem keine Demokratie existiert. Und es gibt Länder wie Kuba, in denen während langer Zeitabschnitte, wie in den Jahren nach der Revolution, keine Wahlen stattfanden, und dennoch gab es eine entwickelte Demokratie. Die Menschen haben massenhaft ihre Hände auf den Plätzen gehoben. So wie im alten Griechenland.
In der Verfassung ist die Rolle der Partei im Artikel 5 eindeutig beschrieben. Dieser Artikel ist unverändert in die neue Verfassung übernommen worden. Die Partei übt die Führungsrolle in Gesellschaft und Staat aus, sie ist die stärkste Kraft der Revolution. Mit dem Wahlprozess hat sie allerdings nichts zu tun. Das Wahlparteiensystem haben wir hinter uns gelassen.
In der Regierung ist es ähnlich. Für die Gouverneure, die jetzt neu gewählt werden, ist die Mitgliedschaft in der Partei keine Voraussetzung. In Kuba hat das Volk die Macht, seine Vertreter zu wählen und die Macht, sie wieder abzuberufen. Dieses Prinzip gilt bis hinauf zum Präsidenten der Republik.
UZ: Wie schätzt du den derzeitigen Fortschritt des 2006 begonnenen Erneuerungsprozesses in Kuba ein? Ist die Revolution auf dem richtigen Weg?
Yoerky Sánchez: Ja. Wir werden erst im kommenden Jahr auf unserem Parteitag die Ergebnisse auswerten, aber ich denke, wir stehen gut da. Und wir werden gegen alle Widerstände und die Angriffe der US-Regierung weiterhin für einen wohlhabenden und nachhaltigen Sozialismus kämpfen. Alle geplanten Maßnahmen für die sozioökonomische Erneuerung unseres Landes gehen in diese Richtung, und vielleicht nicht alle, aber doch die allermeisten haben sich umsetzen lassen.
Das Gespräch mit Yoerky Sánchez Cuellar führte Tobias Kriele