US-Kolonialministerium tagt
Inmitten schwerer Glaubwürdigkeitskrise: Mitgliedsländer der »Organisation Amerikanischer Staaten« wählen neuen Generalsekretär
Von Volker Hermsdorf
Hintergrund: Geschichte eines Erfüllungsgehilfen
Die »Organisation Amerikanischer Staaten« (OAS) wurde am 30. April 1948 auf Initiative der USA in Bogotá (Kolumbien) gegründet. Laut eigener Charta will die Organisation mit Hauptsitz in Washington unter anderem »Demokratisierung und Menschenrechte fördern und den Frieden in der Region sichern«. Die OAS verpflichtete sich zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten und ist nach ihrer Selbstdarstellung darum bemüht, Streitigkeiten zwischen amerikanischen Ländern friedlich zu regeln.
Schon kurz nach ihrer Gründung wurden diese Ziele allerdings bereits unglaubwürdig, als sie 1954 nach dem von der CIA organisierten Sturz des gewählten linken Präsidenten Jacobo Arbenz in Guatemala eine Resolution formulierte, die eine »regionale kollektive Intervention« legitimierte. Im April 1961 unterstützte die OAS dann faktisch die Invasion einer von den USA finanzierten und der CIA ausgebildeten Söldnertruppe in der kubanischen Schweinebucht. Nach heftigen Protesten Havannas gegen den von der OAS tolerierten Angriff wurde Kuba im Januar 1962 in Punta del Este (Uruguay) aus der interamerikanischen Organisation ausgeschlossen und auf Drängen der USA von allen Mitgliedsländern mit einem wirtschaftlichen und diplomatischen Boykott belegt.
Über eine Million Kubaner antworteten darauf am 4. Februar 1962 auf dem Platz der Revolution mit der »Zweiten Deklaration von Havanna«, in der die Bedeutung der Kubanischen Revolution für Lateinamerika herausgestellt wurde. Es sei »falsch, die Völker in der Illusion zu wiegen, dass die herrschende Klasse auf legalem Wege entmachtet werden könnte«, heißt es in der Erklärung, deren Fazit wie folgt lautete: »Die Pflicht eines jeden Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen«. Havanna betrachtet die OAS seitdem als Handlanger Washingtons zur Durchsetzung der US-Vorherrschaft auf dem Kontinent.
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Ein wichtiges Instrument der OAS sind die seit 1994 stattfindenden »Amerikagipfel«. Auf einem Treffen im Jahr 2009 bot die OAS Kuba die Mitgliedschaft wieder an. Havanna lehnte den Eintritt zwar ab, nicht jedoch die Teilnahme am nächsten Amerikagipfel. Daraufhin kündigten mehrere lateinamerikanische Präsidenten an, dass sie die Treffen künftig boykottieren würden, wenn Kuba nicht eingeladen wird. Beim siebten Amerikagipfel in Panama kam es im April 2015 dann zu einem als »historisch« bezeichneten Zusammentreffen zwischen US-Präsident Barack Obama und dessen kubanischem Amtskollegen Raúl Castro.
Nach dem Amtsantritt Donald Trumps im Januar 2017 avancierte die OAS unter Generalsekretär Luis Almagro erneut zum Erfüllungsgehilfen der USA bei deren Kampf gegen progressive Regierungen. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro kündigte deshalb im April 2017 den Austritt seines Landes aus der OAS an. (vh)
Während das neuartige Coronavirus sich auch auf dem amerikanischen Kontinent ausbreitet, wollen die 33 Mitgliedsländer der »Organisation Amerikanischer Staaten« (OAS) am heutigen Freitag einen neuen Generalsekretär für die Zeit bis zum Jahr 2025 wählen. Am Dienstag (Ortszeit) hatte das Generalsekretariat der Organisation mitgeteilt, dass die Wahl wie geplant stattfinden werde, sofern die US-Gesundheitsbehörde nach einer Inspektion der Räumlichkeiten am OAS-Hauptsitz in Washington keine Einwände gegen die Zusammenkunft vorbringe.
Die Wahl findet in einer schweren Glaubwürdigkeitskrise der 1948 auf Initiative Washingtons gegründeten Organisation statt, die bereits in den ersten Jahren ihres Bestehens in den CIA-Putsch gegen Jacobo Arbenz in Guatemala (1954), den Söldnereinfall in der Schweinebucht Kubas (1961) und die US-Invasion in der Dominikanischen Republik (1965) verwickelt war. In den vergangenen Jahren wurde der OAS vorgehalten, ein Instrument der von Washington orchestrierten neoliberalen Gegenoffensive in Lateinamerika und der Karibik zu sein.
Der jüngste Vorwurf betrifft ihre Rolle beim Putsch gegen den am 20. Oktober 2019 gewählten bolivianischen Präsidenten Evo Morales. Nachdem Morales von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) die Präsidentschaftswahl mit mehr als zehn Prozentpunkten Vorsprung vor seinem Gegenkandidaten Carlos Mesa und dessen konservativem Bündnis »Comunidad Ciudadana« (CC) gewonnen hatte, unterstellten OAS-Wahlbeobachter ihm und der MAS Betrug. Gewalttätige Oppositionelle nahmen die nicht belegte Behauptung zum Vorwand für schwere Unruhen, die zu zahlreichen Toten und Verletzten und schließlich zu einem Staatsstreich führten. Morales wurde ins Exil gezwungen, am 10. November übernahm ein ultrarechtes Putschistenregime die Macht.
Andere Wahlbeobachter und Journalisten bezeichneten die OAS-Vorwürfe bereits kurz nach deren Veröffentlichung als unseriös. Ende Februar berichtete die Washington Post dann über ein wissenschaftliches Gutachten von zwei Experten des angesehenen Massachusetts Institute of Technology (MIT), die den OAS-Report als »zutiefst fehlerhaft« bezeichneten. Im Gegensatz zur OAS hielten die US-Wissenschaftler es für »höchst wahrscheinlich«, dass Evo Morales »einen Vorsprung von mindestens 10,49 Prozentpunkten vor seinem Herausforderer« hatte und seine Wahl zum Präsidenten damit nicht zu beanstanden war. In ihrer Untersuchung hätten sie keinerlei Beweis für den von der OAS und ihrem Generalsekretär Luis Almagro erhobenen Vorwurf des Wahlbetrugs gefunden, erklärten die MIT-Experten.
Dennoch eröffneten die Putschisten Strafverfahren wegen »Manipulation von Wahlprotokollen« gegen den MAS-Vorsitzenden Morales und weitere Funktionäre der Partei. Ihre Vorwürfe stützten sie hauptsächlich auf die »Dossiers der OAS«. Deren Wahlberichte werden mittlerweile von einigen der Mitgliedsländer hinterfragt.
Die Regierung Mexikos forderte die OAS und Almagro beispielsweise auf, die »Defizite in ihrem Bericht« zu erklären. Es handele sich bei der von der Washington Post veröffentlichten Analyse um die Untersuchung »zweier Experten von hohem Ansehen«, erklärte der Sprecher des mexikanischen Außenministeriums, Roberto Velasco, vor einigen Tagen. Mexiko fordert von der OAS, »die Diskrepanzen zu dem Bericht der Wissenschaftler aufzuklären«.
Auch Argentiniens Präsident Alberto Fernández stellte den OAS-Report in Frage und warf der Organisation »Komplizenschaft« mit Putschisten vor, die einen durch Wahl legitimierten Präsidenten gestürzt hätten. Die Kritik aus Caracas und Havanna fiel erwartungsgemäß ebenfalls scharf aus. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro bezeichnete die von Almagro geführte Organisation als »Kolonialministerium der USA«, das »gegen den Willen der Völker des Kontinents« Wahlergebnisse beeinflusse.
Nach Einschätzung des kolumbianischen Soziologen Javier Calderón vom Lateinamerikanischen Forschungszentrum für Geopolitik (Celag) entscheidet die für heute vorgesehene Abstimmung vor allem darüber, ob die OAS weiterhin als verlängerter Arm der US-Außenpolitik agiert, oder ob Kräfte eine Chance bekommen, die eher auf Dialog und Verständigung setzen. In Venezuela würde dadurch der Teil der Opposition gestärkt, der das Gespräch mit der Regierung und die Beteiligung an Wahlen anstrebt. Die Almagro-Anhänger setzen hingegen noch immer auf den dortigen Oppositionspolitiker Juan Guaidó, dessen Vertreter sie im April zum »offiziellen OAS-Botschafter« Venezuelas gekürt und damit den politischen Konflikt weiter verschärft hatten.
Guaidó, der für Konfrontation und Eskalation eintritt, hat die USA mehrfach zur militärischen Intervention in Venezuela aufgefordert. Auch die Zukunft Boliviens nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 3. Mai, zu denen die OAS von der derzeitigen Putschistenregierung erneut als Beobachter eingeladen wurde, dürfte unabhängig vom Wahlausgang davon beeinflusst werden, ob die OAS künftig mehr auf Ausgleich und Integration oder weiter auf Konflikt und Repression setzt.
https://www.jungewelt.de/artikel/374838.lateinamerika-us-kolonialministerium-tagt.html