Die Krise der Sozialwissenschaften und die Rolle der Universitäten
Die vom ökologischen Debakel, dem sozialen Holocaust des Neoliberalismus und einem möglichen Atomkrieg bedrohte Welt verlangt wie nie zuvor Beiträge aus einem kritischen und profunden Blickwinkel
februar 20, 2020 17:02:02
Hundert Jahre nach der Universitätsreform ist es offensichtlich, dass man erneut gegen das konventionelle Wissen, die lebenslänglichen Lehrstühle, die angeblich wissenschaftlichen Dogmen und die Orthodoxie in den Sozialwissenschaften kämpfen muss, wie dies die jungen Leute in Cordoba 1918 getan haben. Wir wagen es zu behaupten, dass diese Schlacht heute nötiger ist, als sie gestern war, weil die „eine Art zu denken“, die den Post-Modernismus mit dem neoliberalen Individualismus verbindet, sich mit ungewöhnlicher Intensität in den Geisteswissenschaften und den Sozialwissenschaften niedergelassen hat. Letztere befinden sich in einer nie dagewesenen Krise und es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass sie sich einem unaufhaltsamen Niedergang gegenübersehen. Der einzige Fluchtweg aus dieser Krise liegt in der Erneuerung der Sozialwissenschaften auf einer neuen Grundlage.
Nun gut, die Notwendigkeit für diese Aufgabe ergibt sich nicht nur aus dem Umfeld der Ideen und dem Akademischen, sondern sie ist die praktische Notwendigkeit einer Menschheit, die in Gefahr ist, wie dies Fidel mit seiner ihm eigenen großen Weitsicht in seiner berühmten Rede auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992 festgestellt hat. Die vom ökologischen Debakel, dem sozialen Holocaust des Neoliberalismus und einem möglichen Atomkrieg bedrohte Welt verlangt wie nie zuvor Beiträge aus einem kritischen und profunden Blickwinkel. Wird es möglich sein, dieses unerlässliche Projekt der theoretischen Erneuerung im Schoß der Universität durchzuführen? Meine Antwort, die eines Mannes, der schon sehr jung in der akademischen Welt geformt wurde, ist pessimistisch. Und das liegt daran, dass die Universitäten und Forschungszentren seit Ende des XX. Jahrhunderts von immer mehr eingreifenden und inflexiblen Kodizes der internationalen Bürokratien wie der Weltbank bestimmt werden und einen rückläufigen Prozess durchlaufen haben, der jedes kritische Denken, jede Heterodoxie von sich wies und nur diejenigen zulässt und fördert, die der große spanische Dramatiker Alfonso Sastre mit allem Recht und viel Ironie „als wohlmeinende Intellektuelle“ bezeichnete.
Damit meint er Leute, denen es niemals in den Sinn käme, das etablierte Wissen und die Mächte herauszufordern, die sich über ihnen erheben. Konkreter ausgedrückt, die den Mut hätten, gegen den Strom zu schwimmen und zu sagen, dass der Kapitalismus – genau wie der Imperialismus, als sein notwendiger Begleiter- ein historisches System ist, dessen Verschwinden, auch wenn es nicht unmittelbar bevorsteht, jedoch unausweichlich ist, genau wie dies mit Produktionsweisen geschehen ist, die vor ihm existierten. Und dass, wenn die Welt, wie sie ist, weiter diesem Weg folgt, sie in ihr eigenes Verderben stürzt.
Deswegen scheint es uns dringlich und notwendig eine Diskussion zu der aktuellen Lage der Universitäten zu entfachen und über ihre Fähigkeit oder Nicht-Fähigkeit, die Entwicklung eines kritischen Denkens zu fördern.
Um Irrtümer zu vermeiden, muss gesagt werden, dass es sich hier nicht um eine bloß rhetorische Übung handelt und noch viel weniger eine akademisierende. Wenn wir vom kritischen Denken sprechen, beziehen wir uns auf etwas, das definitiv nicht mit dem Elfenbeinturm der Akademie beginnt und noch weniger damit endet. Die Stärkung und Ermutigung des herausfordernden, nicht-konventionellen Denkens hat seine Ursprünge in der sozialen Praxis. Die Universität könnte eins seiner Umfelder sein, aber sie ist sicher nicht das wichtigste gewesen. Karl Marx hat nie an einer Universität gelehrt und Friedrich Engels war völliger Autodidakt und hat keine Kurse an der Universität belegt und weder Lenin, Karl Kautsky noch Antonio Gramsci – um nur einige isolierte Fälle zu nennen – wurden als Professoren zugelassen. So weit wir wissen haben auch José Martí und José Carlos Mariátegui nicht die Universitäten durchlaufen und wenn man Argentinien betrachtet, trifft dies auch auf Arturo Jauretche, Héctor P. Agosti, Ricardo Scalabrini Ortiz und John William Cooke zu. Und trotzdem stammt ein großer Teil des kritischen Denkens unserer Zeit von diesen Autoren, denen man natürlich nur die immense theoretische Hinterlassenschaft des Comandante Fidel Castro Ruz und von Ernesto Che Guevara hinzufügen muss, die nie vorhatten an der Universität zu lehren und wenn dies ihr Wunsch gewesen wäre, hätte die Wahrscheinlichkeit zum akademischen Lehrkörper zugelassen zu werden, gegen Null tendiert.
Wir brauchen also ein Denken und eine theoretische Reflexion wie die zuvor erwähnten Personen, ein Denken, das als Werkzeug der sozialen Bewegungen und der Kräfte des Volkes konzipiert ist, die sich im Kampf zur historischen Überwindung des Kapitalismus und beim Aufbau einer neuen Gesellschaft befinden .
Wir sind weit davon entfernt, die Debatte innerhalb der vier Wände der Akademie geringzuschätzen, wenn sie denn stattfindet ( aber sie erfolgt aufgrund der wachsenden Homogenität des dort akzeptierten Denkens immer weniger)!. Aber wir sind überzeugt,dass wenn etwas unsere kritische Sichtweise der aktuellen Gesellschaft und über das emanzipatorische Projekt, das wir unbedingt benötigen, vertiefen und bereichern könnte, so ist es vor allen Dingen das Produkt des ständigen Dialogs mit den sozialen Agenten der Veränderung und nicht so sehr die unbedeutenden pseudotheoretischen Debatten, die in Fachzeitschriften für Sozialwissenschaften geführt werden oder noch schlimmer in einem Umfeld, das angeblich mit der politischen Praxis verknüpft ist wie Parteien oder Regierungsbehörden, für die die intellektuellen Moden unserer Zeit eine leichte Beute sind.
Greifen wir unsere anfängliche Frage noch einmal auf. Kann man, wenn die Bedingungen gegeben sind, das kritische Denken in dem muffigen Ambiente der Akademie wieder aufnehmen? Nein, und der Grund dafür ist ganz einfach: ihre Struktur und ihre Logik des Funktionierens führen dazu, dass sie nicht nur die berühmte XI. These von Marx ablehnt, die uns aufruft, die Welt zu verändern sondern auch noch mit ihrer fanatischen Verbundenheit zum fragmentierten Denken, ihrer kompromisslosen Verteidigung der eng gefassten Fachbereiche und ihre Unterwerfung unter organisatorische Modelle und im entwickelten Kapitalismus ausgearbeitete Theorien verteidigt. Damit hat man auch auf jeden Anspruch verzichtet, die Welt richtig zu interpretieren. Zusammengefasst: Die Akademie hat darauf verzichtet, die Welt verändern zu wollen und ihren post-modernsten Versionen sogar darauf, sie zu erklären. Im günstigsten Fall interpretiert sie die prosaische und schlammige Realität so, als ob sie nur ein Text sei, mit viele von Lesarten möglich sind, von denen aber keine wahr ist.
Damit das kritische Denken im akademischen Leben Fuß fassen kann, wird man zuerst die Universitäten revolutionieren müssen. Zumindest in Lateinamerika bedürfen sie dringend einer neuen Reform, die das Programm von Cordoba von 1918 aktualisiert und die neoliberale Gegenreform abschafft, die Ende des XX. Jahrhunderts stattfand. Was sie braucht, ist eine Revolution. Das haben Darcy Ribeiro, Pablo González Casanova und Boaventura de Sousa Santos schon lange klar gemacht, als sie die anachronistischen und oftmals reaktionären Strukturen der Hochschulen anklagten.
Deswegen haben wir zu Anfang gesagt, dass wir eine Revolution an den Universitäten benötigen, nicht nur eine Reform. Ihre unterschiedlichen Profile sind ex ante schwer zu unterscheiden, aber einige Komponenten dieser neuen Universität scheinen unumgänglich. Es muss eine Universität sein, die viel mehr mit den sozialen Kräften und den Volksbewegungen verflochten ist, denn ihre Unabhängigkeit wird ohne im Wettbewerb mit diesen unmöglich sein. Sie muss die schädliche Verwirrung zwischen Universitätsautonomie und sozialer Isolierung beseitigen. Die Autonomie ist gut, wenn es darum geht, die wissenschaftliche Arbeit und die Förderung von Ideen und kritischem Denken zu fördern, aber ohne dass diese Dinge am Rande der notwendigen Verbindung stattfinden, die mit der Gesellschaft bestehen muss. In Übereinstimmung mit dem zuvor Gesagten muss sie ihr akademisches Angebot modifizieren, die Inhalte des Curriculums und die Prioritäten bei der Forschung entkolonisieren, die oftmals mehr externen Faktoren als nationalen Bedürfnissen entsprechen. Sie muss außerdem ihre Organisationsmodelle verändern und demokratisieren und bürokratische und merkantile Tendenzen vermeiden, die die großen Universitäten der entwickelten Welt ersticken lassen. Die Aktivitäten zur Volksbildung und deren Ausdehnung müssen wesentlicher Teil ihres Projekts sein und nicht, wie es oft geschieht, nur ein Appendix der akademischen Aktivitäten der Universitäten.
Es ist also notwendig, die Fenster der akademischen Welt weit zu öffnen, um diesen Herausforderungen zu begegnen, sie von dieser sterilen Atmosphäre zu reinigen und unsere Agenda der intellektuellen Arbeit eng mit den emanzipatorischen Praktiken der sozialen Kräfte zu verbinden, die dafür kämpfen, in unseren Ländern eine gerechtere soziale Ordnung zu errichten. Es handelt sich um eine unvermeidliche und unaufschiebbare Verpflichtung, der aber nicht alle, die an den Universitäten arbeiten, bereits sind nachzukommen.
Quelle: Fragmente aus La pupila insomne