Die Diktatur des Videoclips
Wie ist es möglich, dass ein Buch mit Essays von über 600 Seiten und 1.300 Anmerkungen es innerhalb kurzer Zeit auf drei Druckauflagen bringt und seine digitale Version sich erfolgreich im Internet vermarktet?
Wie kommt es, dass das Erscheinen eines Werkes wie La dictadura del videoclip, das sich von der ersten Seite an als offen marxistisch und antikapitalistisch erklärt, zu zahlreichen Rezensionen in Kommunikationsmedien führte, die systematisch genau das Gegenteil von dem verbreiten, was dort dargelegt wird?
Das sind Fragen, die aufkommen, wenn man die Geschichte dieses Buches von Jon Illescas kennt, der die Freundlichkeit besaß, es dem kubanischen Leser zugänglich zu machen und bei dem viele übereinstimmend der Meinung sind, dass es sich dabei um die vollständigste Untersuchung, zumindest in spanischer Sprache, über das Produkt der Kulturindustrie ist, dass seit über einem Jahrzehnt die größte Wirkung auf die Jugend der Welt hat und dessen Einfluss – mit dem ständigen Wachstum des Internetzugangs- nicht aufgehört hat sich zu vervielfachen.
Dies ist kein Buch gegen den Videoclip, sondern gegen seine Kontrolle und Nutzung durch eine Handvoll transnationaler Unternehmen und durch Regierungen mit dem Bestreben zur Weltherrschaft. Aus dem Blickwinkel derer, die kulturelle Diversität anstreben, müssen die Statistiken, die uns dieses Buch zeigt, beunruhigen:
- Von den zehn Videos, die zwischen 2005 und 2015 am meisten gesehen wurden, kamen sieben aus den USA, eines war koreanisch, eins kanadisch und eins spanisch.
- 61,5 % der Fahnen, die in den Videoclips erscheinen sind die der USA; sie kommen sechs mal so häufig vor, wie die des Landes, das an zweiter Stelle liegt: Großbritannien.
- In 90 % der Videoclips wird englisch gesungen.
- In nahezu vier von jeweils zehn Videos (39,8%) werden legale Drogen verherrlicht (fast immer Alkohol) und in mehr als einem von zehn illegale Drogen (fast immer Marihuana).
Dem Autor gelingt es hier, auf unterhaltsame Weise die Anekdote mit der strengsten Analyse der Statistiken und Zitaten zu kombinieren, die ihm die Argumente für seine Kritik an der hegemonialen Kulturindustrie liefern. Trotzdem macht ihn dies nicht blind für die Inkohärenz derer, die ihre Alternative sein sollten, Musiker, Organisationen und Regierungen eingeschlossen, die sich als links oder sozialistisch ansehen oder angesehen haben, obwohl manchmal die wenige Information, die aus diesen eigenen Prozessen verfügbar ist und die Überschwemmung mit stereotypen Informationen , bei ihm dazu führt, mit großer Ehrlichkeit zu relativieren oder an seinen eigenen Urteile zu zweifeln. Auch in diesem Zusammenhang erkennt er gebührend an, wie sich in Kuba die Produktion von Videoclips „an einer Logik orientiert, die dem Künstlerischen näher liegt“, eine Wahrnehmung, die er sicher noch vertiefen würde, wenn er ausgehend von dem, was wir uns aufgrund der Veröffentlichung seines Buches aneignen und als Ansatz aufnehmen, mit unserer Wirklichkeit in Kontakt treten würde. Über unsere eigenen Beschränkungen hinaus, sind wir nämlich weit davon entfernt, in einer Glaskugel zu leben und der Zugang junger Kubaner zum Internet wächst ständig und jüngste Untersuchungen haben aufgezeigt, dass YouTube das am meisten besuchte soziale Netz auf der Insel ist.
Hier wird genauer untersucht, wie sich in dieser Branche – mit wachsender Wirksamkeit, und von Big Data gefördert – Gewinn, Verführung, Zensur und Hegemonie vermischen, aber auch das, was man oft in anderen Werken dieses Typs vermisst: Vorschläge für Allianzen und Finanzierungsverbindungen für Produktion und Vertrieb, die es ermöglichen einen Anreiz für das Entstehen und die Bezahlung von dem zu sein, was der Autor einen gegen-hegemonialen Videoclip nennt, wozu Werke gehören, die in Kuba gemacht wurden.
Wenn man dieses Buch im lateinamerikanischen Kontext liest, wird der geringe Stellenwert deutlich, den die Integrationsprojekte der audiovisuellen Produktion und der Kulturindustrie ganz allgemein bei jenen Kräften der Linken hatten, die in den letzten zwei Jahrzehnten in der Region an die Macht gekommen waren und die sich auf die politische Schlacht, und den nicht konventionellen vom Imperialismus aufgezwungenen wirtschaftlichen und militärischen Krieg konzentrieren mussten, was sich in der geringen Präsenz auf den strategischen Kommunikationsplattformen widerspiegelt, die mehr auf die Dringlichkeit des Kampfes an der Nachrichtenfront als an der Ausarbeitung von Alternativen zentriert war, die die Produktion und die Verbreitung audiovisueller gegen-hegemonialer Werke verstärkten.
Man könnte beispielsweise daran denken, dass Telesur in Lateinamerika der Beginn für die Entfaltung dieses Potentials in einem gemeinsamen lateinamerikanischen audiovisuellen Raum sein könnte. Ein Land mit der kulturellen Dichte Argentiniens hatte während der Regierungszeit der Kirchners und unter der Leitung des Filmemachers Tristán Bauer die audiovisuelle Produktion zu pädagogischen und kulturellen Zwecken diversifiziert und vervielfacht, indem man Produktionsfirmen und neue Fernsehkanäle auch mit Präsenz im Internet schuf. Die gemeinsame Arbeit dieser Kanäle mit kleinen und mittleren Produktionsfirmen, Institutionen und argentinischen Ministerien, führte ab dem Jahr 2007 dazu, dass es 21.000 Arbeitsplätze von Fachleuten der audiovisuellen Industrie gab und solchen, die Inhalte schufen, die mit kulturellen, pädagogischen, identitätsstiftenden und emanzipatorischen Zielen in den verschiedenen Bereichen der Kunst und der Wissenschaft in Beziehung standen. Aber das hatte zu Zeiten, in denen die Prozesse der regionalen Integration im Aufschwung waren, sehr wenig Auswirkungen außerhalb des südamerikanischen Landes. Die Rückkehr einer post-neoliberalen Regierung in Buenos Aires, in der Bauer Minister für Kultur ist, lässt auf eine zweite Chance für die lateinamerikanische Integration an dieser Front hoffen.
Die aufmerksame Lektüre am Anfang dieses Bandes kann einige Antworten auf die Fragen zu Beginn und über die Fachkenntnisse seines Autors liefern. Dort erfahren wir auch, dass trotz allen akademischen Lorbeers, den er für die Untersuchungen für seine Doktorarbeit erhielt, die als Grundlage für dieses Buches dient, Illescas nicht an zwei der angesehensten Universitäten Spaniens und auch an keiner anderen Hochschule als Dozent zugelassen ist. So unterrichtet er an einem Gymnasium, eine Arbeit, die wie er sagt, ihm ermöglicht hat, durch seine Schüler zu neuen Erkenntnissen zu kommen.
Aber nachdem wir diesen Band gelesen haben, werden wir verstehen, dass es heute wenige Berufe gibt, die wichtiger sind, als die Vermittlung von Audiovisueller Kultur an Teenager und Jugendliche, wie dies Jon Illescas tut, indem er mit den zukünftigen Bürgern die Früchte des Wissens teilt, zu dem die in diesem Buch enthaltenen Forschungsergebnisse beigetragen haben. Es würde nicht das erste Mal sein, dass Ideen und Wissen die Klassenräume oder die Seiten eines Buches sprengen, um zur Umwandlung der Wirklichkeit beizutragen. Und in diesem Sinne ist die Veröffentlichung dieses Buches in Kuba, einer Insel, zu deren größten Herausforderungen gehört, sich zu erneuern und sich selbst treu zu bleiben, inmitten eines ungeheuren Krieges, der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch und vor allem kulturell ist, ein entscheidender Schritt.
http://de.granma.cu/cultura/2020-02-19/die-diktatur-des-videoclips