Putschversuch gescheitert
Jahresrückblick 2019. Heute: Venezuela. Ein Jahr schwere Konflikte. Präsident heißt noch immer Nicolás Maduro
Von Santiago Baez
Das Jahr 2019 geht zu Ende, und der Präsident Venezuelas heißt noch immer Nicolás Maduro. Vor elf, zwölf Monaten hätten das dem sozialistischen Politiker wohl die wenigsten zugetraut. Denn die Inszenierung, mit der ein Staatsstreich in dem südamerikanischen Land gerechtfertigt werden sollte, war zu perfekt, um scheitern zu können.
Schon 2018 war damit begonnen worden, einen noch recht jungen und der breiten Öffentlichkeit unbekannten Oppositionspolitiker auf Größeres vorzubereiten. Er wurde zu Schulungen nach Kolumbien und in die USA eingeladen, bevor dieser Juan Guaidó dann am 5. Januar mit den Stimmen der Regierungsgegner im Parlament zum Präsidenten der Nationalversammlung gewählt wurde. Den westlichen Regierungen gilt diese als die »einzige demokratisch legitimierte Institution« des Landes. Dabei waren die Parlamentswahlen im Dezember 2015 nicht grundsätzlich anders verlaufen als praktisch alle Abstimmungen vorher und hinterher. Allerdings hatten die Rechtsparteien bei dieser Wahl eine Zweidrittelmehrheit der Mandate gewinnen können – mehr braucht es im Westen nicht, um die Legislative für »demokratisch legitimiert« zu halten.
Im Gegensatz dazu haben die Opposition Venezuelas und die rechtsgerichteten Regierungen des Kontinents wie auch der EU die im Mai 2018 durchgeführte Präsidentschaftswahl nicht akzeptiert. Maduro hatte diesen Urnengang klar gewonnen – auch, weil die meisten großen Oppositionsparteien die Wahl boykottierten. Im Gleichklang mit den USA behaupten Brüssel und Berlin seither, dass die Wahlen nicht frei und fair gewesen seien. Tatsächliche Belege dafür gibt es nicht. Die Kritik etwa, dass es keine ausländischen Wahlbeobachter gegeben habe, war nicht nur falsch – es gab sie –, sondern fällt auf die EU selbst zurück. Diese hatte nämlich eine Einladung aus Caracas zur Begleitung der Präsidentschaftswahl ausgeschlagen.
Venezuelas Opposition nutzte die ausländische Nichtanerkennung der Wahl dazu, Maduro mit Beginn seiner neuen Amtszeit am 10. Januar nicht mehr als legitimen Staatschef zu akzeptieren. Mit diesem Datum sei das Amt des Präsidenten »vakant«, hieß es. Deshalb trete nun Artikel 233 der venezolanischen Verfassung in Kraft. Dieser legt fest, dass der Parlamentspräsident übergangsweise Staatschef wird, wenn der reguläre Inhaber das Amt nicht übernehmen oder ausüben kann, etwa durch Tod oder Rücktritt. Einzige in der Verfassung festgelegte Aufgabe dieses »Übergangspräsidenten« ist die Organisation von Neuwahlen innerhalb von 30 Tagen.
Selbsternennung
Am 23. Januar rief sich Guaidó bei einer Kundgebung in Caracas selbst zum Staatschef aus. Innerhalb weniger Stunden wurde er als solcher von den USA und den rechtsgerichteten Regierungen Lateinamerikas anerkannt. Mit etwas Verzögerung folgten die deutsche Bundesregierung und die meisten EU-Staaten. Seither lautet ein Stehsatz in Agenturmeldungen, dass Guaidó von »rund 50 Staaten« der Welt als Präsident anerkannt werde. Unterschlagen wird meist, dass dies von einer großen Mehrheit der Länder nicht mitgemacht wurde, unter ihnen China und Russland, Kuba und Nicaragua, aber auch Mexiko und Uruguay, die 53 Mitglieder der Afrikanischen Union und andere.
Trotzdem sah es Anfang 2019 so aus, als stünde Maduro einer solchen Übermacht gegenüber, dass sein Sturz nur noch eine Frage von »Stunden« oder »Tagen« sei. Die USA drohten offen mit einer Militärintervention gegen Venezuela und riefen die Streitkräfte des südamerikanischen Landes zum Putsch gegen Maduro auf. Zugleich verhängten sie immer schärfere Sanktionen gegen Caracas, durch die der Import von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen Waren erschwert oder verhindert wird. In der Konsequenz verschärfte sich die schwierige Versorgungslage weiter, und notwendige Investitionen in die Infrastruktur unterblieben. Eine Folge war im März ein tagelanger landesweiter Stromausfall, der von den Behörden auf Sabotage zurückgeführt wurde.
Hatten die USA damit gerechnet, dass der Zusammenbruch der Grundversorgung zu einem Aufstand der Bevölkerung führen würde, hatten sie sich erneut getäuscht. Der Staatsstreich blieb aus. Auch die überwältigende Mehrheit der Hunderttausende Soldaten starken Streitkräfte blieb der gewählten Regierung treu. Bis heute haben nur einige Dutzend Offiziere und wenige hundert Soldaten dem Präsidenten die Gefolgschaft aufgekündigt und sich in die Nachbarländer abgesetzt.
Das wurde spätestens am 30. April deutlich. An diesem Tag gingen Meldungen um die Welt, dass sich ein Teil der Truppen gegen die Regierung erhoben habe. Der Militärflughafen »La Carlota« in Caracas sei von Aufständischen besetzt worden. Guaidó zeigte sich zusammen mit dem aus dem Hausarrest befreiten Oppositionspolitiker Leopoldo López in Begleitung schwerbewaffneter Soldaten und rief seine Anhänger zum Marsch auf den Präsidentenpalast Miraflores auf.
Wenige Stunden später war klar: Zu keinem Zeitpunkt war es Guaidó und López gelungen, auf das Gelände von »La Carlota« vorzudringen. Die meisten der rebellierenden Militärs ergaben sich, als sie auf loyale Einheiten trafen – und gaben zu Protokoll, belogen worden zu sein. López flüchtete in die Residenz des spanischen Botschafters in Caracas, wo er bis heute ausharrt.
Ohne Rückhalt
Auch die anfängliche Massenunterstützung für Guaidó nahm im Laufe der Zeit immer weiter ab. Im Januar und Februar hatte er noch Hunderttausende Menschen zu Protestkundgebungen mobilisieren können und dabei von der Erwartung profitiert, dass er als »sauberes« neues Gesicht mit der in Venezuela herrschenden Korruption aufräumen würde. Es dauerte jedoch nicht lange, bis auch in seinem engsten Umfeld Bestechungsvorwürfe aufkamen. Im Juni veröffentlichten das rechtsgerichtete Internetportal Panam Post und andere Medien Belege dafür, dass sich die offiziellen Vertreter Guaidós in Kolumbien ein Leben in Saus und Braus genehmigt hatten, finanziert aus »Hilfsgeldern«, die für Flüchtlinge aus Venezuela bestimmt waren.
Es war kein Einzelfall. Anfang Dezember beschloss das Präsidium der Nationalversammlung, dessen Chef Guaidó nach wie vor ist, zehn oppositionelle Abgeordnete wegen ihrer Verwicklung in einen weiteren Korruptionsskandal zu suspendieren. Hinzu kommt, dass Guaidó nach wie vor seinem Ziel, Maduro aus dem Amt zu verdrängen, keinen realen Schritt nähergekommen ist. So folgen inzwischen meist nur noch wenige hundert Anhänger seinen vor allem über Twitter verbreiteten Aufrufen zur jeweils »historischen«, »entscheidenden« oder »größten« Demonstration. Und Guaidós Amtszeit als Parlamentspräsident läuft Anfang Januar ab. Ohne diesen Posten fehlt ihm jedoch die ohnehin fragwürdige Legitimation als »Übergangspräsident« Venezuelas. Doch unter den verschiedenen Oppositionsparteien gibt es immer weniger Bereitschaft, Guaidó und damit dessen Organisation »Voluntad Popular« (Volkswille) ein weiteres Jahr die Kontrolle über die Legislative zu überlassen.
Das Scheitern der »Operation Guaidó« bedeutet jedoch nicht, dass die Krise in Venezuela vorbei sei. Die Blockadepolitik der USA schnürt dem südamerikanischen Land weiter die Luft zum Atmen ab. Und die jüngsten Initiativen und Ankündigungen von Präsident Maduro lassen keinen erfolgversprechenden Ausweg erkennen. Zumal sich die Regierung mit ihrem Umwerben von Kapitalisten und religiösen Kräften sowie der klammheimlichen Privatisierung staatlicher Unternehmen zunehmend von ihrer eigenen Basis entfremdet. Die will die vor mehr als 20 Jahren von Hugo Chávez initiierte »Bolivarische Revolution« fortsetzen und vertiefen. Für sie lautet das Ziel nach wie vor: Sozialismus.
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